Einzahlen statt abholzen

Von Gottfried Stein · 08.12.2009
Der brasilianische Amazonasregenwald gilt als größtes Biotop der Welt - wichtig für das regionale und globale Klima, bedroht von immer weiter voranschreitender Abholzung. Die brasilianische Regierung will den Kahlschlag stoppen - allerdings nur halbherzig, weil das Schwellenland immer wieder in den Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie gerät.
Die Stiftung "Nachhaltiges Amazonien" versucht, den Regenwald unter ökonomischen Vorzeichen zu schützen – und internationale Konzerne mit in die Verantwortung einzubeziehen.

Der Hafen von Manaus. Eine langgezogene Uferpromenade, vor der Dutzende "Gaiolas" liegen - "Vogelkäfige", wie die traditionellen Amazonasboote heißen, wegen der luftigen Bauweise und der an Deck gespannten Hängematten. Die Millionenstadt Manaus liegt mitten im größten Regenwald der Welt. Hier hat die Stiftung "Nachhaltiges Amazonien" ihren Sitz. Ihr Gründer, der ehemalige Umweltminister Virgilio Viana, will den Wald mit einer Idee retten:

"Niemand holzt aus Eselei, Dummheit oder Irrationalität ab. Die Leute holzen aus rationalen Gründen ab. Was wir tun müssen, ist einen wirtschaftlichen Grund zu schaffen, der das Nichtabholzen des Waldes zu einem guten Geschäft macht."

Ankunft im Amazonasurwald. Zurück liegen zwei Flugstunden mit der Propellermaschine von Manaus bis zur Schotterpiste in Novo Aripurana, und noch mal neunzig Minuten mit dem Motorboot den Fluss hinunter bis zu diesem Dorf:

"Wir sind hier in der Ortschaft Boa Frente. Sie gilt als strategischer
Ort, weil man leicht dorthin kommt. Diese Gemeinschaft ist ein Modell, das in anderen Orten kopiert werden soll. Hier leben 17 Familien. Es gibt eine Schule vom ersten bis zum vierten Schuljahr und eine weitere bis zum achten Schuljahr, wir haben also die gesamte Grundschule."

Mauro Christo ist der Regionalvertreter der Stiftung "nachhaltiges Amazonien" und Boa Frente ist ein typisches Amazonasdorf: Am Flussufer aufgereihte Pfahlbauten aus Holz und Stroh, umrahmt von Gemüsebeeten, Obststauden, und einem Dickicht aus tropischen Bäumen und Sträuchern. Das langgezogene Schulgebäude am Dorfausgang ist das Zentrum des "Juma-Projektes" von Virgilio Viana:

"Dort hat die Bildung Priorität. Niemand hat Zugang zu Informationen über die Waldnutzung und das mitten im Wald! Die Schulen unterrichten genau
das gleiche wie hier in Manaus, Sao Paulo oder Porto Alegre. Aber niemand erklärt zum Beispiel, warum der Fisch seine Eier hier legt und nicht dort. Ich glaube fest daran, dass Bildung im Bereich nachhaltige Entwicklung den Unterschied ausmacht."

"Nun kommen wir zum Kern der nachhaltigen Entwicklung. Hier vorne haben wir die Schule, hier wird mit einem etwas anderen Ansatz gelehrt. Sie lernen portugiesisch, Mathematik, Physik, Chemie, Biologie - darüber hinaus aber auch Techniken der der nachhaltigen wie der familiären Landwirtschaft, die sie im Alltag benutzen können, um die Qualität des Bodens zu verbessern, um Brände und Abholzungen zu vermeiden. Wir nennen das Pädagogik der Abwechslung. Das Ziel ist eine etwas andere Ausbildung, die wir Waldausbildung nennen."

Es regnet in Strömen. Die Schüler nutzen den Wassersegen, um ihre Unterkünfte zu putzen. Zwei Wochen leben und lernen sie hier, zwei Wochen sind sie zuhause. Die Schule bietet ihnen Möglichkeiten, die sie sonst nie gehabt hätten, erklärt die 14-jährige Elimara:

"Hier lerne ich viel, was ich sonst nicht lernen würde. Ohne diese Schule hier wäre für mich nach der vierten Klasse Schluss gewesen. Danach wäre ich dann zuhause geblieben. Denn mein Vater hätte mich nicht in die Stadt geschickt - er hätte das nicht gekonnt. Er ist Bauer und hat Probleme, mir so etwas zu bezahlen."

Nicht nur die Schüler profitieren. Unter einem offenen, primitiven Holzverschlag steht ein Steinofen mit einer großen gusseisernen Pfanne. Hier rührt eine Frau Farinha an, ein aus Maniok gewonnener Speisezusatz. Den verkauft sie in der Stadt. Außerdem erhält sie, wie alle hier, von der Stiftung monatlich "Bolsa Floresta", einen Zuschuss von 50 Reais, knapp 20 Euro:

"Mein Mann ist Krankenbetreuer. Wir machen Farinha, um unser Einkommen aufzubessern. Bolsa Floresta ist gut. Das hält uns über Wasser, aber wirklich viel ist es ja nicht. Nur 50 Reais. So teuer wie heutzutage alles ist, kann man damit praktisch nichts machen. Es hat uns ein wenig geholfen, aber genug ist es nicht."

"Bolsa Floresta", die Waldbörse, ist ein simples, aber zukunftsweisendes Modell: Die Stiftung zahlt an die Einwohner in 35 Schutzgebieten Amazoniens Geld, damit sie den Wald nicht abholzen. Sie hilft, neue Produktionen aufzubauen, fördert Tourismus, und Juma ist das Sahnehäubchen: Dort wird zusätzlich in Bildung investiert. Finanziert wird das Projekt von internationalen Konzernen – wie der Bradesco Bank, Coca-Cola, oder der Hotelkette Mariott. Virgilio Viana:

"Wir haben einen permanenten Fond gebildet, mit 20 Millionen Reais von Bradesco, 20 Millionen von der Landesregierung, und 20 Millionen von Coca Cola. also haben wir 60 Millionen. Davon heben wir jedes Jahr etwa fünf Prozent ab. Das ist der Gewinn minus Inflation. Das bezahlt "Bolsa Floresta" in allen Schutzgebieten. Damit haben wir eine permanente Geldquelle."

Die Firmen holen sich das Geld vom Kunden. Mariott erhöht den Zimmerpreis um ein paar Dollar, Bradesco verkauft Kreditkarten, von denen das Projekt im Jahr eine kleine Gebühr erhält, und bietet dem Verbraucher spezielle Sparkonten an. Alles zum Wohl einer Umwelt, in der rund zwölf Millionen Menschen leben - und existieren müssen:
"Hier in der Gemeinde werden 100 Prozent der Leute von Bolsa Floresta unterstützt, das Geld bekommen die Frauen. Sonst leben sie von Maniok, dem bisschen Landwirtschaft oder sie sammeln Waldprodukte. Die Schule arbeitet mit ihnen zusammen, zum Beispiel mit Holzfällern, die so ihre eigene Schule bauen. Das ist deren tägliche Arbeit. Aber vor allem sammeln sie Waldprodukte."

Viel gibt der Wald nicht her: In Fläschchen fangen sie Kautschuk auf, der aus angeritzten Baumrinden tropft, sammeln Paranüsse oder pflücken Tropenobst. Das Geld reicht bei Weitem nicht. Das Leben habe sich wenig verändert, meint diese Frau. Nur die Fazendeiros, die mächtigen Viehzüchter und Sojabauern,
die früher den Wald skrupellos abgeholzt haben, ließen sich nicht mehr blicken:

"Bevor diese Schutzzone hier existierte, sind Leute hier eingedrungen und manche wollten hier sogar ihre Grundstücke verkaufen, an einen Fazendeiro von außerhalb. Wir hätten dann hier weggemusst, weil er seine Leute hier angesiedelt hätte. Dann ging es mit dem Schutzgebiet los, und da haben die damit aufgehört und niemand hat mehr sein Grundstück verkauft.""

Egal, wen man fragt, die meisten sind unzufrieden mit dem wenigen Geld von der Stiftung, dass sie auch noch mühsam per Scheckkarte in der entfernten Stadt abheben müssen. Trotzdem, sagt Virgilio Viana, gehe es nicht um Sozialhilfe:

""Die beste Art und Weise zu erreichen, dass der intakte Wald mehr wert ist als der abgeholzte, ist funktionierende Produktionsketten zu installieren. 50 Reais auf 70 oder 100 zu erhöhen ist nicht der richtige Weg. Wir wollen von der Unterstützung weg kommen und lieber der Arbeit mehr Wert einräumen und das Wissen der Menschen höher bewerten. Manche Menschen haben enormes Potenzial für Tourismus, deshalb müssen wir unterstützen, dass sie kleine Pensionen eröffnen und Geld mit Tourismus verdienen."

Das Projekt zeigt erste Früchte: Die Abholzung ist deutlich zurückgegangen, die Schüler lernen biologischen Anbau und alternative Pflanzungen, die Einwohner suchen sich neue Einnahmequellen. Natürlich sei das alles nur möglich mit Hilfe der halben Million Dollar, die eine Hotelkette jährlich zuschießt, gesteht Jose Alves Pinheiro, einer der fünf hauptamtlichen Lehrer, aber es diene dem Waldschutz:

"Das ist einer der Schwerpunkte, den wir mit den Schülern bearbeiten. Schließlich erhält er diese Unterstützung und das hilft ihm, nicht die Umwelt und den Wald zu zerstören, sondern ihn noch mehr zu schützen. In dieser Form trägt das also dazu bei. Er erhält diese Unterstützung, damit er im Gegenzug die Umwelt bewahrt."

Der Rio Aripurana ist die einzige Verbindung von Boa Frente mit der Außenwelt. Der riesige Amazonasurwald ist ungefähr viermal so groß wie Deutschland und das Boot ist für die Einheimischen das einzige Verkehrsmittel. Die Bäume wachsen bis dicht ans Flussbett. Weiter innen schlagen skrupellose Fazendeiros tiefe Schneisen in den Wald, um Holz abzutransportieren und Vieh einzutreiben. Der Staat tue sich schwer, den Raubbau zu kontrollieren, klagt Mauro, und die Fazendeiros hätten kein Interesse am Waldschutz:

"Das interessiert die nicht, weil es sich für sie mehr lohnt, viel Vieh auf der Weide zu haben als einen intakten Wald. Sie stellen das Vieh auf die Weide, in ein paar Jahren verkaufen sie es. Dieses Vieh geht in der Regel nach Südbrasilien und wird sogar als Fleisch mit Ursprungszeugnis nach Europa und in andere Länder exportiert. Um die Wahrheit zu sagen, finanziert dies einen Großteil der Abholzung in unserer Region."

Schulunterricht in ‚Acajatuba, einem Dorf an einem Nebenarm des Rio Negro. Die Schule ist mit dem Bau in Boa Frente nicht vergleichbar, die Lehrer werden per Satellit und Internet aus Manaus auf Flachbildschirme zugeschaltet. Aber das Angebot kann sich sehen lassen: Zwischen den Pfahlbauten gucken Satellitenschüsseln in den Himmel, die Gemeindebaracken bieten Telefon Internet an, und die Schüler werden aus den Nachbargemeinden per Motorboot angekarrt. Marlene Alves da Costa ist Hebamme und Gemeinderätin:

"Unser Leben hat sich in den letzten 20 Jahren sehr verändert. Damals gab es keinen Strom, kein Telefon, diese ganzen Informationen, die man heute hat. Schule gab es nur bis zur vierten Klasse. Mehr gab es für unsere Kinder nicht. Sie mussten weggehen, aber jetzt kann man die komplette Grundschule hier absolvieren und man hat uns versprochen, dass es noch mehr Kurse geben wird. Für uns hat sich also viel verbessert."

Zurück in Novo Aripurana, der einzigen größeren Ortschaft im Umkreis von hunderten Kilometern. In Quadraten aufgereihte Holzhäuser, Geschäfte, ein paar kleine Hotels. NGO’s haben hier ihre Büros, Organisationen, die sich um den Schutz des Regenwaldes kümmern. Juma, Bolsa Floresta, das sind Tropfen auf heiße Steine, meint der international renommierte Klimaforscher Phillip Fearnside. Aber sie hätten Zukunft:

"Es ist wichtig, dass solche Projekte eine verlässliche Finanzierung haben.
Juma ist meiner Ansicht nach sicher, aber auch in Zukunft muss das versprochene Geld da sein. Bei einem kleinen Projekt ist es viel einfacher, Versprechen einzuhalten. Aber wenn man wirklich etwas Substanzielles gegen Abholzung machen will, muss es sehr groß sein. Und die Abmachungen in einem Klimaabkommen beinhalten riesige Geldsummen. Die Länder müssen diese Abmachungen über Jahrzehnte einhalten."

Ist Juma ein Vorbild für künftige Klimaabkommen und Emissionshandel? Können Regierungen, Organisationen und Konzerne CO2-Zertifikate kaufen, deren Erlös in solche Projekte fließt und langfristig den Regenwald erhalten?

Nadia Ferreira, die Umweltministerin Amazoniens, jedenfalls ist sicher, dass die Welt längst umdenkt:

"Wir vertreten die Position, dass der Wald an sich einen Wert hat, aufgrund der Dienste, die er der Natur, dem Klima, dem Planeten leistet. Für diese Dienste haben wir niemals etwas verlangt. Heute sieht die Welt dies ein - damit er nicht abgeholzt wird, muss er einen Wert haben."