"Eintreten füreinander"

Micha Brumlik im Gespräch mit Kirsten Dietrich · 10.03.2012
In der kommenden Woche wird zum 60. Mal die "Woche der Brüderlichkeit" gefeiert. In Leipzig kommen Christen, Juden und auch Moslems zusammen, um über die Beweggründe ihres Glaubens zu sprechen. Der Erziehungswissenschaflter Micha Brumlik hofft auf eine friedensstiftende Wirkung des interreligiösen Austauschs.
Kirsten Dietrich: "In Verantwortung für den anderen", das ist das Motto der Woche der Brüderlichkeit, die an diesem Sonntag, also morgen, in Leipzig eröffnet wird. Eine Woche lang organisieren die Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit überall in der Bundesrepublik Veranstaltungen, in denen das Verhältnis von Juden und Christen zum Thema wird – und das in diesem Jahr zum 60. Mal.

1952 fand die erste Woche der Brüderlichkeit statt. Wo die Woche der Brüderlichkeit steht, darüber habe ich vor der Sendung mit jemandem gesprochen, der von jüdischer Seite schon lange an diesem Dialog beteiligt ist, durchaus streitbar: mit Micha Brumlik, Professor für Pädagogik an der Universität in Frankfurt. Ich wollte zunächst von ihm wissen, warum überhaupt die Woche der Brüderlichkeit so wichtig ist.

Micha Brumlik: Nun, sie ist wichtig, damit die Jahrhunderte alten Verwerfungen des Verhältnisses zwischen Juden und Christen, die dann letztlich im Holocaust, jedenfalls in Europa, mündeten, nun bearbeitet werden können, dass Juden und Christen und neuerdings nun auch Muslime sich besser kennenlernen und ein tieferes Verständnis für die jeweiligen Glaubensweisen und Glaubensinhalte erhalten, so dass hoffentlich in Zukunft Feindseligkeiten aller Art vermieden werden können.

Dietrich: Als die Woche der Brüderlichkeit etabliert wurde, 1952, da standen vor allen Dingen die christlichen Kirchen noch ganz unter dem Eindruck des Holocaust und der Frage, die da erst überhaupt zaghaft gestellt wurde, was eigentlich der Einfluss und die Beteiligung, christlicher Gedanken auch dabei sind, bei der Entstehung antijudaistischer Stereotype und Feindbilder zum Beispiel. Wie hat sich dieses Verhältnis, was sich ja in dieser Woche der Brüderlichkeit widerspiegelt, entwickelt und verändert in den 60 Jahren?

Brumlik: Ich glaube, dass in den vergangenen 60 Jahren vor allem die christliche Theologie, die systematische Theologie als auch die Exegese gelernt haben zu zeigen, dass das, was man über Jahrhunderte an judenfeindlichen, antijudaistischen Inhalten, etwa aus den Evangelien, herausgezogen hat, also sprich die Gottesmörder, die Verräter Jesu, dass das keiner Überprüfung standhält. Darüber hinaus hat man verstanden, dass auch im christlichen Glauben Verheißungen Gottes an Israel nie zurückgenommen worden sind – so jedenfalls der Apostel Paulus –, und das hat zu einer Umbesinnung mindestens in weiten Bereichen der evangelischen Kirchen in Deutschland geführt. Was nun die Beziehungen zur katholischen Weltkirche angeht, muss man sagen, dass insbesondere die neu eingefügte lateinische Karfreitagsliturgie, indem darum gebetet wird, dass die Juden irgendwie Jesus als Retter der Menschheit anerkennen sollen, einen schweren Rückfall darstellt, dafür ist nun der jetzige Papst verantwortlich.

Dietrich: Die Debatte darum, die war im Jahr 2008. Man hat so das Gefühl, irgendwie ist die Auseinandersetzung darum so ein bisschen versickert oder auf jeden Fall nicht mehr so präsent, aber das ist durchaus noch akut als Problem.

Brumlik: Das ist akut, man kann auch nicht immer dauernd immer wieder dasselbe sagen, aber ich glaube tatsächlich, dass das zu einer nachhaltigen Verstimmung geführt hat, die jetzt vielleicht durch diplomatische Nettigkeiten übertüncht wird.

Dietrich: Wie verhalten Sie sich persönlich in diesem Konflikt? Sie haben ja damals, 2008, zum Beispiel Ihre Beteiligung am Katholikentag abgesagt, als die Auseinandersetzung auf ihrem Höhepunkt war. Sind da jetzt wieder Kontakte da?

Brumlik: Ja, das war ein demonstrativer Akt, dieses Jahr werde ich natürlich zum Katholikentag fahren. Ich bin mit meinen katholischen Freundinnen und Freunden in dieser Frage, die dieselbe Haltung wie ich vertreten, durchaus solidarisch, und wir werden uns auf dem Katholikentag bemühen zu zeigen, wie unmöglich und unsäglich diese lateinische Karfreitagsliturgie ist.

Dietrich: Das Motto in diesem Jahr "In Verantwortung für den anderen", das ist ja, finde ich, durchaus ein kniffliges Motto, das ist nicht einfach, sondern geht einen ganz schmalen Grat zwischen Verantwortung, auch Eintreten füreinander, Solidarität und Einmischung und Bevormundung.

Brumlik: Ja, es gibt immer auch so etwas wie einen Verantwortungsimperialismus, dass man sich da etwas anmahnt. Es wird alles darauf ankommen, wie in den verschiedenen Veranstaltungen der Woche der Brüderlichkeit das interpretiert werden wird. Richtig ist, jeder Mensch hat für den anderen eine Verantwortung, aber wann und wie die auf ihn zukommt, das kann man nun nicht unbedingt immer selbst planen.

Dietrich: Sind in dieser Debatte die Gewichte gleichmäßig verteilt, also ist es wirklich so, dass Juden und Christen – also wenn ich mal die als pauschale Größe nehmen – voneinander das Gleiche fordern und erwarten?

Brumlik: Nein, natürlich nicht. Die Frage ist schon: Können wir Juden für die christlichen Kirchen Verantwortung übernehmen? Genau genommen natürlich nicht, aber was wir schon können, ist, die christlichen Kirchen an ihr Ureigenstes zu erinnern. Wir können immer wieder mit Hinblick auf die Geschichte des christlichen Antijudaismus darauf hinweisen, in welcher eklatanten Weise das Christentum seinen eigenen Überzeugungen untreu geworden ist.

Dietrich: Was können die jüdischen Teilnehmer andererseits von christlichen vielleicht lernen?

Brumlik: Also ich kann nur für mich sprechen. Ich habe gelernt, dass Judentum und Christentum weniger in einer Mutter-Tochter-Beziehung stehen, sondern in einer geschwisterlichen Beziehung, als historische Religion, christlicher Glaube, christliche Religion und rabbinisches Judentum etwa gleichzeitig in der späten Antike entstanden sind. Ich zum Beispiel lese die Evangelien mit dem berühmten deutschen Rabbiner Leo Baeck als Urkunden und Zeugnisse jüdischen Glaubens, nicht als christliches Buch.

Dietrich: Über das Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum, über die Probleme, die Debatten, die es da gibt, haben wir gerade schon kurz gesprochen. In letzter Zeit gehen die Auseinandersetzungen vor allen Dingen von evangelischer Seite aus, so mein Eindruck. Es gibt Auseinandersetzungen in der protestantischen Pfarrerschaft über das sogenannte Kairos-Dokument, das vom Ökumenischen Rat der Kirchen 2009 verabschiedet wurde, jetzt so allmählich hat man das Gefühl, es rezipiert wird, überhaupt erst wahrgenommen wird, die Frage darüber, ob man bei aller grundlegenden Solidarität mit dem Judentum als Religion auch so unbedingt solidarisch mit Israel sein kann.

Brumlik: Das ist die Frage, was genau das heißt. Niemand verlangt von Christenmenschen, dass die mit der Politik der jeweiligen israelischen Regierung solidarisch sein müssen – darum kann es natürlich nicht gehen. Es geht um eine grundlegende Solidarität für die im Staate Israel lebende jüdische Gemeinschaft, deren Lebensbedingungen zu sichern und zu garantieren sind, darum geht es.

Dietrich: Und wie kann man das verknüpfen mit der Frage danach, wie es andererseits den Palästinensern geht?

Brumlik: Nun, also wenn christlicher Glaube, soweit ich das also von außen sehen kann, einen universellen Anspruch hat, ist es natürlich richtig, dass er sich sowohl um die Belange der muslimischen als auch der christlichen Palästinenser kümmert. Das ist vielleicht von politischen Vorgaben, von menschenrechtlichen Erwägungen her einfacher, als nun zu versuchen, dieses biblisch und theologisch zu begründen, weil da immer leicht die Gefahr besteht, dass das wieder einen antijudaistischen Schlag bekommt.

Dietrich: Gibt es da irgendeinen einfachen Weg oder vielleicht auch nur einen gangbaren Weg, wie man diese vertrackten Solidaritäten irgendwie unter einen Hut bringen kann?

Brumlik: Das glaube ich nicht. Also einen einfachen Weg gibt es mit Sicherheit nicht, und ich kann nur empfehlen, in all diesen Angelegenheiten weniger theologisch denn einfach politisch zu argumentieren. Das hat, wenn ich recht sehe, der Präses der evangelischen Kirche in Deutschland, Nikolaus Schneider, kürzlich bei einer Tagung der Adenauer-Stiftung genauso versucht, und dem kann ich durchaus meine Zustimmung geben.

Dietrich: Also das heißt, die Debatten gar nicht erst theologisch zu überhöhen, sondern zu sagen, das, was politisch ist, auch politisch zu nennen, das andere dann …

Brumlik: Das wäre mein Rat, ja.

Dietrich: Verliert da nicht der Dialog zwischen den Religionen an Bedeutung? Ist das dann noch so ein schmückendes Beiwerk dazu, wenn die eigentlichen Entscheidungen dann auf politischer Ebene getroffen werden?

Brumlik: Na ja, die Frage ist ja, ob wirklich der einzige wichtige und bedeutsame Gegenstand, gewissermaßen das Lackmuspapier, auf das Verhältnis von Christen und Juden unterschiedliche Auffassungen zum sogenannten Nahost-Friedensprozess sind. Das glaube ich nicht. Ich glaube immer noch, dass wir in einem Dialog, den es nach dem Zweiten Weltkrieg nun gerade mal 60, 70 Jahre gibt, genug zu tun haben, um uns wechselseitig besser zu verstehen.

Dietrich: Das heißt, diese ganzen Veranstaltungen, die ja das Gros der Programmpunkte in auch der Woche der Brüderlichkeit ausmachen, wenn es darum geht, Synagogen kennenzulernen, überhaupt miteinander zu sprechen, rabbinische Musik kennenzulernen, also ganz viel Christen entdecken das Judentum – das ist nicht nebensächlich und eigentlich was, was schon längst überwunden werden sollte, sondern das ist immer noch die Grundlage dessen, was passieren muss?

Brumlik: Also für mich steht das auf jeden Fall im Zentrum, und das geht so weit, dass ja viele Christenmenschen glauben, dass das Judentum identisch sei mit der Religion des sogenannten Alten Testaments, was nicht der Fall ist. Also das Judentum ist rabbinisches Judentum, und viele haben vielleicht mal einen Blick ins Alte Testament geworfen. Ich weiß nicht, wie viele an jüdischen Gottesdiensten teilgenommen haben oder auch nur mal einen Blick in ein jüdisches Gebetbuch geworfen haben. Da würden sie nämlich sehen, wo Unterschiede und Gemeinsamkeiten sind und dass die Gemeinsamkeiten doch sehr viel stärker sind, als man das bisher geglaubt hat.

Dietrich: Wenn ich ins Programm schaue, dann sehe ich sehr viele engagierte, sicher kompetente und vor allen Dingen ältere Menschen. Wo bleiben die Jungen?

Brumlik: Ja, das ist in der Tat das Problem. Es ist im Wesentlichen ein Projekt der Generationen, die noch im Zweiten Weltkrieg oder kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geboren worden sind.

Dietrich: Ist das nicht ein bisschen frustrierend, wenn man nach 60 Jahren immer noch beim Kennenlernen ist?

Brumlik: Na ja, für die Einzelnen, die sich kennengelernt haben, wäre das natürlich frustrierend, aber umgekehrt ist es doch so, dass immer neue Generationen nachwachsen und dass in einer Situation, in der zwar einerseits Religion gesellschaftlich, politisch immer wichtiger wird, tatsächlich aber immer weniger Menschen wissen, worum es überhaupt geht. Insofern ist es für die, die – ich sag das in Anführungszeichen – es schon verstanden haben, frustrierend, aber es gibt im Talmud dieses Wort: "Du wirst das Werk nicht vollenden, aber das gibt dir nicht das Recht, dich von ihm zu entfernen."

Dietrich: 60 Jahre Woche der Brüderlichkeit. Ich sprach mit Micha Brumlik, Professor für Erziehungswissenschaften an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Wir haben das Gespräch vor der Sendung aufgezeichnet.

Die diesjährige Woche der Brüderlichkeit wird morgen Vormittag in Leipzig offiziell eröffnet. Bei der Veranstaltung wird Nikolaus Schneider, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, mit der Buber-Rosenzweig-Medaille für seine Verdienste im christlich-jüdischen Dialog ausgezeichnet.


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