Einheitsschule statt Sonderschule

Lisa Pfahl im Gespräch mit Katrin Heise · 21.06.2010
Um Inklusion, was so viel bedeutet wie Einbeziehung, dreht sich derzeit die Debatte um die bessere Integration von behinderten Menschen. An Schulen müsste dafür ein Umfeld geschaffen werden, an dem alle Kinder gemeinsam lernen könnten, sagt Lisa Pfahl. Die Kultusministerkonferenz befasst sich derzeit in Bremen mit der Umsetzung der UNO-Behindertenkonvention an deutschen Schulen.
Katrin Heise: In den 70er-Jahren gehörte Deutschland zu den ersten Ländern, die sich mit Integration von behinderten Kindern beschäftigten und erste – noch heute existierende übrigens – Integrationsschulen schuf. Dennoch attestierte im Frühjahr dieses Jahres der Inspektor der UN-Menschenrechtskommission für Bildung, Vernor Muñoz Villalobos, Deutschland eine Politik der Absonderung. Er kritisierte, dass die Entwicklung eben seit den 70er-Jahren auch stagniert und außerdem große regionale Unterschiede mit einem deutlichen Ländergefälle – der Norden integriert stärker als der Süden, der Westen stärker als der Osten – bestehen. Jeder 20. Schüler besucht in Deutschland eine sogenannte Förderschule. (…) Ich begrüße jetzt Lisa Pfahl, sie ist Soziologin am Wissenschaftszentrum Berlin und beschäftigt sich mit der Situation Behinderter im deutschen Schulsystem. Schönen guten Morgen, Frau Pfahl!

Lisa Pfahl: Guten Morgen, Frau Heise!

Heise: Begonnen hat, wenn wir jetzt noch mal darauf eingehen, was wir auch gerade gehört haben, Pascal als Integrationsschülerin an einer ganz normalen Grundschule. Ich nehme mal an, dass die Eltern auch für diesen Weg schon großes, persönliches Engagement zeigen mussten, aber was bedeutet das denn, wenn man sich das mal überlegt, was dahintersteckt an Aktivitäten der Eltern, auch um die Kinder in diese Schulen, in die Regelschule um die Ecke zu bringen. Was bedeutet das für Kinder aus bildungsfernen Schichten?

Pfahl: Für Kinder aus bildungsfernen Schichten bedeutet das regelmäßige Sonderschulkarrieren, in die sie abwandern. Also die Eltern von bildungsfernen Kindern sind weitaus weniger engagiert im Schulsystem, sie mischen sich in die Überweisungsverfahren seltener ein und die Kinder landen also regelmäßig auf Sonderschulen. Also es gibt sogar in der Soziologie und in der Bildungsforschung auch schon so einen also stehenden Begriff: die Sonderschule als Armenschule. Die, es gibt eine ganz deutliche Überrepräsentanz von Arbeitslosen-Kindern, von Kindern mit Eltern, die Alkoholprobleme haben, Schwierigkeiten haben, es gibt einen sehr hohen Migrantenanteil, einen zu hohen Migrantenanteil, sehr viel höher als in der restlichen Bevölkerung. Und das sind deutliche Hinweise darauf, dass dort Schüler sind, wo es Eltern nicht schaffen, die Kinder zu unterstützen, und wo es auch Eltern im Falle einer Behinderung nicht schaffen, die Kinder in eine Regelschule reinzukämpfen.

Heise: Reinzukämpfen, davon reden wir jetzt im Moment nur von der Grundschule. Wenn wir jetzt noch mal einen Schritt weitergehen, was uns das Beispiel, das, was wir eben gehört haben, ja auch noch mal verdeutlichte, wenn die Schullaufbahn dann weitergehen soll an einer weiterführenden Schule, ist dann überhaupt meistens Schluss. Wie müsste eine weiterführende Schule aussehen, die auch integriert?

Pfahl: Da sprechen Sie ein ganz schwieriges Thema an, nämlich den Wechsel von der Grundschule in die Sekundarstufe, da spielen sich regelmäßig Dramen ab, also wo integrierte Kinder, wie wir das eben auch in dem Feature gehört haben, anschließend dann die Sonderschule besuchen müssen. Das liegt mit daran, dass das deutsche gegliederte Schulsystem in Haupt, Real und Gymnasium viel zu starr ist, um flexibel Kinder aufzunehmen und sich ihren Bedürfnissen anzupassen. Also der Sprachgebrauch hat sich ja auch verändert: Es hieß jetzt eben immer noch behinderte Kinder, es sind Kinder mit besonderen Bedürfnissen. Es gibt Behinderungen in aller Vielfalt und das Wort Behinderung assoziiert oft das gehbehinderte Kind, aber wir haben ja ganz verschiedene Bedürfnisse, die die Kinder zeigen. Und die Schulen müssen sich darauf einstellen und können sich auch darauf einstellen, das zeigt der internationale Vergleich: Es gibt Länder mit 100-Prozent-Ingegrationsraten, es gibt diese Schulen und es müsste eine Offene Schule sein, am besten eine gemeinsame Schule, weil dann wüssten die Lehrer jetzt schon, wie sie auch mit unterschiedlichen Leistungsständen umgehen von einem jetzigen Hauptschüler und einem Gymnasiasten. Wenn Sie die beiden in einer Klasse haben und die beide unterrichten können, dann können Sie auch ein lernbehindertes Kind dabei unterrichten oder ein gehbehindertes Kind.

Heise: Also das, die Voraussetzung ist eigentlich die Überwindung des gegliederten Schulsystems?

Pfahl: Ich denke, dass die Überwindung des gegliederten Schulsystems einen ganz wichtigen Schritt dabei darstellt, Gemeinsamkeiten zu finden und zu schaffen und den Blick auf Vielfalt zu öffnen. Weil im Augenblick die Lehrer als Profession die Klasse als leistungshomogene Gruppe haben wollen und sehen wollen. Und das ist aber nicht der Weg zum Ziel. Also für eine Inklusion von Kindern mit besonderen Bedürfnissen brauchen wir eine inklusive Klasse und das hieße dann auch eben nach Stand, nach Schicht inklusiv und nicht, wie wir es jetzt haben, ein Schulsystem, das soziale Ungleichheiten reproduziert, wo Arbeiterkinder mehrheitlich mit Arbeiterkindern zur Schule gehen und Gymnasiasten eben Bildungskinder mit Bildungskindern ist.

Heise: Behinderte Kinder auf der Regelschule sind eine Ausnahme in Deutschland, unser Thema im Deutschlandradio Kultur mit der Soziologin Lisa Pfahl vom Wissenschaftszentrum Berlin. Sie haben, Frau Pfahl, eben schon das Ausland angesprochen. Wie ist das in anderen Ländern geregelt, geben Sie mal ein gutes Beispiel?

Pfahl: Es gibt gute Beispiele, natürlich die nordischen Länder, also Finnland mit einer relativ hohen Klassifikationsrate. Sprich es sind viele Kinder, die als sozusagen in Anführungsstrichen "behindert" klassifiziert werden ...

Heise: ... ja, das ist bei uns auch relativ niedrig, der Stand ...

Pfahl: ... genau, bei uns ist der Stand relativ niedrig. Das bedeutet ja immer automatisch, so werden die Ressourcen verteilt: Nur ein Kind, das gelabelt wurde, also als behindert anerkannt wurde, kann zusätzliche Ressourcen erhalten. In Finnland sind das relativ viele Kinder. Diese vielen Kinder bleiben aber zu 90 Prozent an der Regelschule und nur ganz wenige Kinder werden in getrennten Schulen unterrichtet. Das geht in anderen Ländern auch bis zu 100 Prozent, also da bleiben sozusagen fast alle Schüler an den Schulen wie in Italien. Allerdings gibt es in Italien auch Kritik, weil dort relativ wenig Ressourcen dazugespendet werden ...

Heise: ... also wenig Geld einfach reinfließt ...

Pfahl: ... wenig Geld reinfließt, aber in Deutschland fließt im Augenblick enorm viel Geld in ein separates Schulsystem. Wir haben ja nicht die eine Sonderschule, sondern wir haben zehn verschiedene Typen von Sonderschulen, wo sozusagen behinderte, sogenannte behinderte Kinder noch mal aufgeteilt werden. Und wenn wir diese ganzen Ressourcen in die Hand nehmen und an die Regelschulen überführen und dort mit der Profession, mit der Expertise der Sonderschullehrer unterrichten würden, könnten wir eine ganze Menge reißen und könnten auch diesen ... Wir sind ja historisch sehr weit zurück in Deutschland und wir könnten in einem Sprung wirklich die Nase nach vorne kriegen, wenn wir jetzt gucken, wie machen es die Finnen, wie machen es die anderen, und wirklich ein inklusives Schulsystem gründen.

Heise: Also es ist die Weiterentwicklung sozusagen der Integration. Ich möchte einen Punkt noch ansprechen, denn Sie haben eben gesagt, wenn also alle Kinder quasi in ganz normale Regelschulen gehen können, dann würde man auch verschiedenste Kinder mit verschiedensten Bedürfnissen in den Schulklassen finden und dann kämen sich "die Behinderten" in Anführungsstrichen nicht wieder ausgeschlossen vor, nicht wieder als Minderheit vor. Denn man hört ja auch ganz häufig, dass behinderte Kinder erst unter ihresgleichen eigentlich das tatsächliche Verständnis finden, wenn sie irgendwann dann vielleicht doch als Minderheit in einer Integrationsklasse dann so mitgezogen werden. So darf es ja auch nicht sein.

Pfahl: Ja, da stimme ich Ihnen zu, das ist ein ganz komplexes Thema. Wichtig ist wirklich, nicht ein einzelnes Kind in eine Schule zu integrieren. Auch das Wort der Integration ist mit den UN-Konventionen, die Sie eben zitiert haben, abgelöst worden, wir sprechen jetzt über Inklusion. Das heißt, die Schulen schaffen Lernumwelten, wo alle Schüler mitmachen können. Das darf nicht das einzelne Kind sein, das müssen immer mehrere Kinder an einer Schule sein und insofern kann es dann hin und wieder im Einzelfall sehr wohl auch hilfreich sein, also jetzt ein Kind dann doch auch wieder zu fahren in eine Schule, wo mehrere Kinder inkludiert werden, damit vor allem bestimmte Gruppen von Kindern wie jetzt vor allem sehbehinderte Kinder, die auch die Brailleschrift lernen. Es gibt Kulturen an Behinderungen und die sollten auch weiterhin gefördert und gepflegt werden. Es geht nicht darum diese also auch Selbstemanzipation der Behindertengruppen wegzunehmen, aber es geht darum, die Kinder mit besonderen Bedürfnissen von Anfang an in normalen Lernumwelten aufwachsen zu lassen, um den Kontakt von früh an zu üben, um später im Übergang zum Arbeitsmarkt – und das wurde eben auch angesprochen, fand ich sehr schön wirklich –, damit die Jugendlichen schon wissen, wie das ist, wenn man diskriminiert wird, was kann ich dagegen tun, und ihre Rechte einklagen und einfordern, das können Sonderschüler regelmäßig überhaupt gar nicht. Also sie verschweigen, ihre Stimme wird lautlos und sie trauen sich kaum mehr, wirklich ihr eigenes Recht einzuklagen.

Heise: Erfahrungen, die Lisa Pfahl als Soziologin im deutschen Schulsystem gemacht hat in den Untersuchungen. Es ging um Teilhabe von behinderten Kindern. Vielen Dank, Frau Pfahl, für dieses Gespräch und die Information.

Pfahl: Ja, bitte sehr!
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