"Einheitliche Rechtsgrundlagen gibt es nicht"

Moderation: Frank Meyer · 08.08.2013
Sieben Jahre lang saß Gustl Mollath gegen seinen Willen in der Psychiatrie. Im Interview spricht Jürgen Müller, Chefarzt der Forensischen Klinik Göttingen, darüber, unter welchen Umständen man zwangseingewiesen werden kann und warum manche Gutachter nicht einmal mit dem Patienten sprechen.
Frank Meyer: "Die forensische Psychiatrie ist die Dunkelkammer des Rechts." Das schreibt heute der Journalist Heribert Prantl in der "Süddeutschen Zeitung" angesichts des Falles von Gustl Mollath. Gustl Mollath wurde im August 2006 in die Psychiatrie eingewiesen auf unbestimmte Zeit. Er sei wahnkrank und allgemeingefährlich, so haben es seine Richter gesehen, und so haben es auch mehrere psychiatrische Gutachter gesehen. Die allerdings haben Gustl Mollath zum Teil nie selbst untersucht, sie haben ihn allein nach Aktenstudium beurteilt. "Die psychiatrischen Kliniken sind ein rechtsfreier Raum", das hat Gustl Mollath nun nach seiner Entlassung gesagt. Wir wollen darüber sprechen mit Jürgen Müller, er ist Professor für Psychiatrie an der Universität Göttingen und Chefarzt der Forensischen Klinik in Göttingen. Seien Sie willkommen, Herr Müller!

Jürgen Müller: Guten Tag, Herr Meyer!

Meyer: Was sagen Sie denn zu so einem Vorwurf, wie man ihn heute in der "Süddeutschen Zeitung" liest, die forensische Psychiatrie, also Ihre Disziplin, sei die Dunkelkammer des Rechts? Es heißt ja, wenn man einmal eingewiesen ist, habe man praktisch keine Rechte mehr.

Müller: Na ja, man muss das dann wahrscheinlich wörtlich nehmen, also es ist die Dunkelkammer des Rechts, und das bezieht sich dann wahrscheinlich eher auf die rechtlichen Rahmenbedingungen als auf die wirkliche Situation in der forensischen Psychiatrie. Möglicherweise, ich weiß nicht, was Herr Prantl meint, möglicherweise hebt er auf die rechtlichen Grundlagen einer Maßregelvollzugsbehandlung ab. Da haben wir in den Bundesländern höchst unterschiedliche Rechtsgrundlagen. Manche haben ein Maßregelvollzugsgesetz, bei anderen wird es nach psychiatrischem Krankengesetz geregelt. Einheitliche Rechtsgrundlagen gibt es da nicht.

Meyer: Wie ist das denn bei Ihnen? Erklären Sie uns bitte mal, wenn man zwangseingewiesen wurde, wie oft wird überprüft, ob die Voraussetzungen überhaupt gegeben sind, also, ob man noch gefährlich ist für die Allgemeinheit.

Müller: Na ja, wir sprechen jetzt, und das ist, glaube ich, wichtig zu betonen, ich verstehe Ihre Frage so, dass es um die forensische Psychiatrie geht. Die Allgemeinpsychiatrie ist ein ganz weites Feld, und die Zwangsunterbringungen, Zwangsbehandlungen sind ja sehr selten. Und von den zur Debatte stehenden Kliniken, also forensisch-psychiatrischen Kliniken, da wird zunächst ja ein Gericht darüber zu entscheiden haben, ob überhaupt die Voraussetzungen vorliegen. Dazu wird schon mal ein Sachverständiger zugezogen. Dann stellt das Gericht fest, dass eben die Voraussetzungen einer solchen Unterbringung vorliegen. Wenn er dann zugewiesen wird, der Betroffene, dann wird, je nachdem, ob er in eine Entziehungsanstalt oder in den psychiatrischen Maßregelvollzug kommt, entweder nach jedem halben Jahr oder nach jedem Jahr eine rechtliche Überprüfung durchgeführt, also eine Anhörung durch die Strafvollstreckungskammer. Zusätzlich gibt es dann, wenn es länger dauert, obligat vorgeschrieben nach jedem fünften Jahr, in anderen Bundesländern beispielsweise auch in kürzeren Abständen, nach jedem dritten Jahr, werden externe Überprüfungen durch externe Sachverständige vorgeschrieben. Und das kann natürlich jederzeit, diese Frist kann jederzeit verkürzt werden, wenn das Gericht die Notwendigkeit erkennt oder möglicherweise auch der betroffene Patient.

Meyer: Jetzt haben wir ja im Fall Mollath davon gehört oder gelesen, dass Sachverständige da zum Teil über ihn geurteilt haben rein nach Aktenlage, ohne ihn selbst gesehen zu haben. Ich frage mich als Laie, ob das möglich ist, ob man über die Gefährlichkeit eines Menschen, über seinen Freiheitsentzug entscheiden kann, ohne ihn selbst zu sehen, ohne ihn selbst zu untersuchen, rein nach Aktenlage? Was sagen Sie?

Müller: Das ist natürlich schwierig. Es kommt in letzter Zeit häufiger vor, dass Patienten oder betroffene Probanden nicht an der Begutachtung mitwirken wollen. Das ist ihr gutes Recht. Dann kommt es häufiger vor, dass man aufgrund der Beobachtungen im Gerichtssaal beispielsweise und in Kenntnis der Aktenlage und möglicher psychiatrischer Vorbehandlungen dann eben so eine Einschätzung abgeben muss. Da muss man aber immer dazu sagen, dass die Einschätzung eben eingeschränkt wird durch die fehlende Kooperation des Betroffenen. Also die Aussage ist immer weniger belastbar als nach einem ausführlichen psychiatrischen Gespräch und einer ausführlichen Untersuchung.

Meyer: Also die Regel sollte sein, dass man den Betroffenen selbst in Augenschein nimmt?

Müller: Das ist sicher die Regel.

Meyer: Wie ist das denn, wenn ich jetzt selbst als Betroffener, wenn ich in der Psychiatrie bin und will, dass mein Fall überprüft wird. Habe ich die Möglichkeit dazu? Kann ich dann jemanden anrufen und kann ich das veranlassen, dass mein Fall überprüft wird?

Müller: Also die meisten der Patienten haben einen Rechtsanwalt, einen, der sich damit gut auskennt und der sie da vertritt. Sie haben auch die Möglichkeit, die Strafvollstreckungskammer natürlich direkt anzugehen. Sie haben die Möglichkeit, die vorgesetzten Behörden, Ministerien direkt anzugehen, die Volksvertreter anzugehen. Die Rechtsmittel einlegen dann am ehesten über ihren Rechtsanwalt oder, wenn sie keinen haben, können sie sich auch direkt an die Strafvollstreckungskammer wenden.

Meyer: Wir haben jetzt schon, Sie haben das schon berührt, die Frage, wie wird jemand überhaupt eingewiesen. Wer fällt da die Entscheidung. Wir haben heute früh im Deutschlandradio Kultur mit Thomas Saschenbrecker gesprochen, das ist ein Anwalt, der sich auf solche Themen spezialisiert hat, Zwangseinweisung und Entmündigung. Und der hat gesagt, dass sich in solchen Fällen die Richter sehr auf die Urteile der psychiatrischen Sachverständigen verlassen, sodass eigentlich faktisch die Psychiater entscheiden, wer zwangseingewiesen wird. Wie sehen Sie das?

Müller: Das Gericht ist sachverständig beraten. Also keinem Richter kann man zumuten, dass er wirklich auch psychiatrischen Sachverstand dann eben erwirbt. Er ist aber gehalten, den Sachverständigen so zu hören und so zu befragen, dass er sich ein eigenes Urteil bilden kann. Also er soll die Aussage des Sachverständigen wirklich auch kritisch prüfen und beleuchten und dann sein eigenes Urteil bilden. Es kommt durchaus vor, dass Richter sich über den Sachverständigen dann hinwegsetzen oder zu anderen Entscheidungen kommen. Das ist die genuine Aufgabe des Gerichts. So kommt es häufig vor, wobei es sicherlich aber auch die Fälle gibt, wo dann die Einschätzung des Sachverständigen einfach übernommen werden. Solche Verfahren werden dann aber auch gelegentlich wieder aufgehoben vom Bundesgerichtshof.

Meyer: Es gab ja die Besonderheit in diesem Fall Mollath, dass Gustl Mollath eingewiesen wurde, so wird es jetzt jedenfalls viel berichtet, also seine Richter haben ihn als wahnkrank angesehen. Aber was man für seinen Wahn hielt, das waren seine Vorwürfe, es habe Schwarzgeldgeschäfte bei der Hypo-Vereinsbank gegeben. Diese Vorwürfe, diesen sogenannten Wahn, hat man gar nicht einmal überprüft richterlich. Was halten Sie denn von einem solchen Vorgang?

Müller: Na ja, das ist natürlich die Aufgabe des Gerichts, solche Anknüpfungstatsachen festzustellen. Also der Gutachter hat nicht das Recht, es ist auch nicht seine Aufgabe, die konkreten Tatvorwürfe festzustellen und zu überprüfen. Das ist die Aufgabe des Gerichts. Das Gericht gibt die Vorgaben, zu welcher rechtlichen Wertung und Einschätzung es gekommen ist, an den Gutachter, und der gibt dann seine psychiatrische Einschätzung ab, wobei er die Feststellungen des Gerichts dann eben voraussetzt.

Meyer: Zwangseinweisung in der Psychiatrie unser Thema hier im Deutschlandradio Kultur. Wir reden mit dem Psychiater Jürgen Müller über diese Frage. Er ist Chefarzt der Forensischen Klinik in Göttingen. Und es steht ja jetzt für viele die Frage im Raum, Sie haben schon auf die notwendige Unterscheidung hingewiesen zwischen der normalen Psychiatrie sozusagen und der forensischen Psychiatrie, wo es um Straftäter geht. Aber viele fragen sich ja jetzt, könnte mir das auch passieren, dass ich gegen meinen Willen eingewiesen werde, dass ich gegen meinen Willen in der Psychiatrie festgehalten werde. Wir haben darüber, ich hab ihn schon erwähnt, mit dem Anwalt Thomas Saschenbrecker gesprochen, und er hat Folgendes dazu gesagt:

Sie können auch in Situationen geraten, zum Beispiel Verlust eines nahen Angehörigen und so weiter, wo Ihnen vorübergehend mal alles egal ist, wo Sie sich auch so ein bisschen, wie man so schön sagt, hängen lassen, und in solchen Situationen ist natürlich durchaus dann die Gefahr, dass jetzt irgendwie das juristische und medizinische Umfeld auf Sie Zugriff nimmt und letztlich sagt, da muss irgendwas passieren, der muss unter Umständen auch weggesperrt werden.

Meyer: Das sagt der Anwalt Thomas Saschenbrecker. Herr Müller, wie sind Ihnen solche Fälle bekannt, dass Leute weggesperrt werden, sage ich jetzt mal, gegen ihren Willen und ohne, dass es eigentlich einen Grund dafür gibt?

Müller: Na ja, die Situation, die er gerade gezeichnet hat, nämlich, man hat einen großen Verlust, einen Trauerfall und kommt nicht mehr auf die Reihe. Das zeichnet aber eher eine akute psychiatrische Störung dann an, die möglicherweise mit Eigengefährdung, viel häufiger mit Eigengefährdung als mit Fremdgefährdung einhergeht. Das würde dann zur Abwendung dieser Gefährlichkeit, dieser Selbstverletzungsgefahr eine vorübergehende Unterbringung in einer akutpsychiatrischen Klinik bedeuten zur Behandlung, damit eben diese Eigengefährdung, möglicherweise auch Fremdgefährdung, dann abgestellt werden kann, behandelt werden kann. Da sind die Unterbringungsdauern – werden natürlich sehr eng richterlich überprüft und sind in der Regel auf sechs Wochen befristet.

Meyer: Und der Betroffene wiederum, kann der selbst Einfluss nehmen auf die Länge seiner Unterbringungsdauer?

Müller: Ja, natürlich. Auch da gibt es natürlich eine richterliche Anhörung. Er wird vom Richter gehört, der Richter bildet sich auch da sein eigenes Urteil. Üblicherweise wird diese Unterbringung dann zur Behandlung der zugrundeliegenden Störung ja dann vollzogen, sodass natürlich das Mitwirken an der Therapie natürlich viel, viel schneller wieder entlassen werden kann, hoffentlich in einem gesunden Zustand.

Meyer: Psychiatrische Kliniken sind de facto ein rechtsfreier Raum, diesen Vorwurf hat Gustl Mollath jetzt erhoben, nach sieben Jahren in der Psychiatrie. Er wurde jetzt entlassen, und wir haben über dieses Thema Zwangseinweisung in der Psychiatrie gesprochen mit dem Psychiater Jürgen Müller, Chefarzt der Forensischen Klinik Göttingen. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch, Herr Müller!

Müller: Bitte sehr!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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