Eingreifen statt zuhören

Rezensiert von René Weiland · 17.07.2011
In der Psychoanalyse hält sich der Therapeut als reale Person bewusst zurück. Drei deutsche Professoren - Peter Diederichs, Jörg Frommer und Franz Wellendorf - fordern nun in einem von ihnen herausgegebenen Sammelband ein aktiveres Eingreifen des Analytikers.
Die Psychoanalyse ist weniger eine Wissenschaft als eine Behandlungskunst. Deren Methode beruht auf nichts anderem als der Zwischenmenschlichkeit von Analytiker und Patient. Der Psychoanalytiker ist mit einem konkreten Schicksal konfrontiert, das sich in starken Affekten ausspricht; er ist nicht mit erkenntnistheoretischen Fragen beschäftigt.

Und doch gibt es so etwas wie eine psychoanalytische Weltsicht. Einem Bonmot zufolge würden Leute, die eine Psychoanalyse hinter sich haben, eher zu Hause bleiben als die Bastille zu erstürmen. So sehr die Psychoanalyse mit dem menschlichen Unbewussten zu tun hat, so unpolitisch scheint sie auf der anderen Seite zu sein. Gleichermaßen gilt aber: Gelänge es einem Psychoanalytiker, das Innenleben des ihm anvertrauten Patienten von seinen neurotischen Zwanghaftigkeiten zu lösen, es würde sich unweigerlich auch dessen Verhältnis zur Umwelt entspannen.

Psychoanalytiker sind gleichwohl versucht, die Umwelt als solche nicht ganz ernst zu nehmen. Stilbildend hierfür ist ein Brief Sigmund Freuds an Wilhelm Fließ von 1887. Darin berichtet er dem Freund, dass ihm eine Patientin eine Verführungsszene beschrieben habe, die er als Produkt ihrer Phantasie und nicht als ein reales Ereignis deute.

Drei deutsche Professoren und Lehranalytiker - Peter Diederichs, Jörg Frommer und Franz Wellendorf - problematisieren in einem von ihnen herausgegebenen Sammelband diese Einseitigkeit. Gemeinsam mit in- und ausländischen Autoren zeigen sie, wie fatal sich diese etwa bei schwer traumatisierten Patienten auswirkt. In diesem Fall muss eindeutig "Realitätsprüfung" vor "Deutung" gehen.

Einem Patienten, der durch Krieg, Verfolgung oder Gewalt stark erschüttert wurde, kann nur geholfen werden, wenn er sich bei der Verarbeitung des jüngst Erlebten vom Therapeuten begleitet und gehalten weiß. Hat er sich erst innerlich stabilisiert, kann er sich früheren Ereignissen seines Lebens zuwenden. Andernfalls würde die Behandlung zum Horrortrip.

Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, ist es ratsam, dass der betreffende Analytiker seine Zurückhaltung aufgibt, der gemäß er nur als Spiegel und Übertragungs-Objekt für die Affekte des Patienten dienen soll. Stattdessen hätte sich der Analytiker hier aktiv als Person und Mitmensch ins Spiel zu bringen. In der psychoanalytischen Begrifflichkeit nennt sich dies "Gegenübertragungs-Enactment".

Die Wendung, die eine Analyse damit nimmt, halten orthodox freudianische Analytiker für äußerst bedenklich. Die Autoren des Sammelbandes leugnen das Risiko nicht, sie nehmen es bewusst in Kauf. Die Entschiedenheit, mit der sie dies vertreten, verleiht dem Buch theoretisches Gewicht wie politische Aktualität. Die Losung heißt: "intersubjektive Wende in der Psychoanalyse". Wulf Hübner, Lehranalytiker aus Hamburg, bringt es auf den Punkt:

"Der Patient muss außerhalb seiner höchst eigenwilligen, narzisstischen Welt den realen anderen treffen können, wenn er denn Anstalten soll machen können, sie zu verlassen. Eine Unterstützung durch den Analytiker an dieser Stelle steht nicht in Konkurrenz zu seinem Bemühen, die unbewusste innere Welt des Patienten zu verstehen. Der Patient braucht diese Unterstützung, weil sie das Fundament legt, das beide Beteiligten brauchen, um als Analytiker und Patient arbeiten zu können, und seine Sicherheit beglaubigt."

Das Grundmuster der psychoanalytischen Behandlungsmethode besteht zunächst darin, dass das Leiden des Patienten auf den Analytiker übertragen wird. Dieser hört nicht nur zu, sondern er antwortet, in dem er seinerseits die Gefühle schildert, die der Patient in ihm ausgelöst hat. Die sogenannte Gegenübertragung soll eine therapeutisch kontrollierte Reaktion sein. So entwickeln Analytiker und Patient eine Methode, innere Konflikte des Patienten zunehmend zu erkennen und in Worte zu fassen.

Der Analytiker leitet diesen Prozess, gerade indem er sich als reale Person bewusst zurückhält. Der orthodoxen Behandlungsmethode ist diese Diskretion besonders teuer. Nur sie nämlich garantiere ein sauberes Übertragungsgeschehen, über das der Patient allmählich einen Zugang zu seinem Unbewussten gewinnt.

Emanuel Berman widerspricht diesem Dogma. Der israelische Analytiker sieht es, im Gegenteil, als therapeutischen Fortschritt, wenn der Patient sich für sein Gegenüber zu interessieren beginnt, für den Analytiker, gerade weil er vom schweigenden Zuhörer zum eingreifenden Gesprächspartner wurde. Der Fortschritt bestehe darin, dass der Patient durch die andere Person sich selbst erfährt. Berman zitiert die amerikanische Analytikerin Jessica Benjamin mit einem Satz, der kanonisch ist für die "intersubjektive Wende" in der Psychoanalyse:

"Die intersubjektive Theorie postuliert, dass der andere als ein anderes Subjekt anerkannt werden muss, damit das Selbst die eigene Subjektivität in der Anwesenheit des anderen ganz erleben kann."

Als Pioniere dieses Gedankens gelten Michael Balint und Donald Winnicott. Für letzteren stellt der Augenkontakt der Mutter zu ihrem Baby die intersubjektive Urform bereit. Der Säugling erfährt sich selber über das Gesicht der Mutter, das ihn anschaut. Auf nichts als diesem Archetyp beruht denn auch die Wirksamkeit der psychoanalytischen Behandlungsmethode. Das Behandlungszimmer symbolisiert den Zwischenraum zweier einander zugewandter Menschen. Winnicott nannte diesen Raum auch einen "Übergangsraum".

In dem Maße, wie Übertragungen des Patienten und Gegenübertragungen des Analytikers hin- und herwechseln, lässt sich nicht mehr trennscharf zwischen Innen und Außen unterscheiden – wohlgemerkt: immer nur in diesem bestimmten Zimmer und für die Dauer von 50 Minuten.

Dieses Nicht-mehr-Unterscheiden-Können macht die Eigentümlichkeit seelischen Erlebens überhaupt aus. Unsere Identität stellt ihrerseits eine Art Übergangsraum dar, in welchem wir unablässig Inneres und Äußeres verhandeln, das heißt voneinander scheiden und wieder zusammensetzen. Was aber, wenn wir das, was wir in uns verspüren, nirgendwo außerhalb unserer selbst bestätigt finden? Wir müssten verzweifeln, ja, verrückt werden.

"Was gesucht wird, ist ein Objekt oder Geschehnis in der Außenwelt, das bestätigt, dass die Innenwelt auch draußen zu finden ist, also nicht erfunden oder nur geträumt ist. Die Gefahr bei großen Verlusten ist jedoch der Mangel an äußerer Bestätigung."

So schreibt Marion M. Oliner, US-amerikanische Analytikerin, die 1941 mit ihrer Mutter aus Deutschland fliehen musste. Und weiter:

"Wenn ich an meine eigene Geschichte zurückdenke, erinnere ich mich an die große Erleichterung, die durch die Bestätigung kam, dass dieses oder jenes wirklich geschehen ist. Die Gefahr für das Individuum ist immer, dass es nur in seinem Kopf lebt."

Wir alle sind, mehr oder minder schmerzlich, von der Differenz von Innen und Außen betroffen. Niemand von uns weiß im Letzten, wo das eine aufhört und das andere anfängt. Keine Wissenschaft kann uns abnehmen, uns in Lebenskunst zu üben. Gerade der traumatisierte Mensch, der von einem gewaltigen äußeren Ereignis in seinem Innern nicht loskommt, bedarf umso mehr der lebensklugen Empathie des ihn therapierenden Gegenüber. Die Bedeutung dieses Buches besteht darin, diesen Gedanken gründlich an der psychoanalytischen Theorie selber exekutiert zu haben.

Peter Diederichs, Jörg Frommer und Franz Wellendorf (Hg.): Äußere und innere Realität. Theorie und Behandlungstechnik der Psychoanalyse im Wandel
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2011
Peter Diederichs, Jörg Frommer und Franz Wellendorf (Hg.): "Äußere und innere Realität"
Peter Diederichs, Jörg Frommer und Franz Wellendorf (Hg.): "Äußere und innere Realität"© Klett-Cotta Verlag