Eingreifen erlaubt

Von Thomas Schmidt · 15.08.2011
Dürfen die Vereinten Nationen auch aus humanitären Gründen in Ländern eingreifen, in denen schwere Menschenrechtsverletzungen begangen werden? Mit dieser Frage beschäftigt sich die UN seit Jahren.
Es war eine schockierende Erinnerung an die dunkelsten Stunden des 20. Jahrhunderts: Nicht einmal 50 Jahre nach dem Ende des Holocaust sah sich die Welt plötzlich erneut mit Völkermord und Massenexekutionen konfrontiert: Hunderttausende starben bei Gewaltorgien in Ruanda. Täglich berichtete damals die ARD in Tagesschau und Tagesthemen nicht nur von der Ohnmacht der Völkergemeinschaft, sondern auch von der offenkundigen Tatenlosigkeit der UN als Weltorganisation.

Politische Akzente setzen – darauf schien sich die UN beschränken zu müssen: Appelle, Sanktionen, Verurteilungen auf dem Papier, aber keine aktive Intervention zum Schutz von Menschenleben. Für die Vereinten Nationen ein Tabu, denn damit wäre ein Eingriff in die staatliche Souveränität von Mitgliedsstaaten verbunden gewesen, aber die hat man in der UN-Charta zu einem nahezu unantastbaren Privileg erhoben. In Kapitel 1, Absatz 2, heißt es dazu:

"Die Organisation beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder. Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden. Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt."

Souveränität und Gleichheit, das Verbot von Interventionen und der Anwendung von Gewalt – daran sind nach der UN-Charta nicht nur die Mitgliedstaaten der UN gebunden, sondern auch die Weltorganisation selbst.

"Der erste Einbruch in die staatliche Souveränität der Mitgliedstaaten war die Menschenrechtskonferenz in wie 1993, die eine Schlusserklärung verabschiedet hat, nach der die Wahrung der Menschenrecht nicht nur eine Angelegenheit der Staaten sei sondern auch eine Angelegenheit der internationalen Staatengemeinschaft. Das ist von allen Staaten unterschieben worden, also auch von solchen, die es mit den Menschenrechten nicht so genau halten."

Gunter Pleuger war von 2002 bis 2006 Deutschlands Ständiger Vertreter bei den Vereinten Nationen, er hat den langen Weg von der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz bis zur Vorlage eines klaren Konzepts aus nächster Nähe begleitet. Denn der Versuch, einen konsensfähigen Vorschlag zu unterbreiten, der aus der festgefahrenen Debatte über Legalität und Legitimität humanitärer, gegebenenfalls sogar militärischer Interventionen führte, geriet immer wieder ins Stocken, besonders durch den hinhaltenden Widerstand vieler Dritte-Welt-Länder:

"Zwei Drittel der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen sind kleinere schwächere Länder, die zumeinst auch noch ihre Unabhängigkeit erkämpft haben gegen ihre früheren Kolonialherren. Die hatten einfach Angst davor durch ein solches System im Völkerrecht benachteiligt zu werden."

Es war nicht nur die Angst vor einer – vermeintlichen – Re-Kolonialisierung, die die Diskussion immer wieder in eine Sackgasse führte – es war, sagt General a.D. Eisele, auch der ideologische Missbrauch des Souveränitätsanspruchs, der zunächst immer wieder Fortschritte verhinderte:

"Die bösen Buben unserer Geschichte, wenn wir von Hitler, Stalin und Mao absehen, haben sich eben auf diese Interpretation des Begriffs staatliche Souveränität so festgelegt als bedeute die Souveränität eine Lizenz zum Töten eigener Landsleute."

Es blieb ein zäh fließender Prozess, der besonders auf Seiten der Industrieländer der westlichen Welt immer wieder zu Frustration führte und den Vereinten Nationen wegen ihrer anhaltenden Handlungsunfähigkeit weiterhin negative Schlagzeilen einbrachte. Erst sieben Jahre nach der Wiener Menschenrechtskonferenz, im September des Jahres 2000, nahm die Debatte neuen Schwung auf:

" Zwölf Personen, Würdenträger könnte man sagen, aber zugleich politische Experten, haben die Responsibility to Protect Erklärung produziert auf 85 Seiten …"

… die maßgeblich von der Grundidee getragen wurden, die Verantwortung in den Vordergrund zu stellen, zu der die Mitgliedsstaaten durch ihre Souveränität verpflichtet werden. Der Ansatz der von Kanada geführten Kommission geht von drei Elementen aus: Er rückt die Lage der betroffenen Zivilbevölkerung in den Vordergrund und spricht damit primär nicht von einem Recht einer Intervention durch die Staatengemeinschaft. Zweitens wird eine Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft für den Fall proklamiert, dass der eigentlich verantwortliche Staat nicht bereit oder fähig ist, seine Schutzverpflichtung wahrzunehmen. Und drittens wird das Konzept der "Responsibility to Protect" aufgesplittet in eine Präventions-, eine Reaktions- und eine Wiederaufbaukomponente.

Die Entscheidung über militärisches Eingreifen sollte nach Vorstellung der Kommission an klare Kriterien gebunden sein: Die Bedrohungslage der Zivilbevölkerung müsse ein extremes Ausmaß erreichen – wie etwa in Fällen von Massensterben oder sogenannten ethnischen Säuberungen. Der Zweck jeder Intervention müsse weiterhin darin bestehen, menschliches Leiden zu beenden. Militärische Gewalt dürfe nur dann angewandt werden, wenn alle friedlichen Möglichkeiten erschöpft seien. Sie müssen in Umfang, Dauer und Intensität begrenzt sein, und schließlich müsse das Vorgehen Aussicht auf Erfolg haben. Die Vorlage der Kommission traf auf ein durchaus geteiltes Echo: Während die westlich orientierten Industrieländer lobende Worte fanden, blieb das Urteil vieler Entwicklungsländer ungebrochen negativ:

"Jetzt haben sie einen Trick gefunden, die Leute des politischen Nordens, um sich in die inneren Angelegenheiten von uns neu unabhängig gewordenen Staaten einzumischen."

So überzogen und ungerechtfertigt diese Ablehnung auch war – für Kofi Annan bedeutete sie Nacharbeit an der Vorlage, denn er brauchte eine Version, die in der Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Mehrheit finden würde. In Vorbereitung des UN-Weltgipfels, der für September 2005 in New York geplant war, setze Annan ein hochrangiges Gremium ein, das Vorschläge für eine Weiterentwicklung der UN erarbeiten sollte. Das Konzept Responsibility to Protect sollte dabei besonders mit Blick auf die Stärkung kollektiver Sicherungssysteme Beachtung finden. Annan hatte indessen erkannt, dass besonders die militärische Komponente in den postkolonialen Regionen der Welt schwer zu vermitteln war.

Er entschloss sich daher, das Konzept in seinen eigenen Reformbericht aufzunehmen: Unter der Überschrift "Freiheit, in Würde zu leben" im Kapitel "Herrschaft des Rechts" betonte er dabei besonders die nichtmilitärischen, kooperativen Elemente des Konzepts. Das Ziel bestand darin, ein möglichst substantielles Abschlussdokument im Konsens zu verabschieden. Einige Staaten, darunter etwa Algerien, Iran, Kuba und Pakistan, hatten sich zunächst gegen eine Aufnahme der Responsibility to Protect gewandt. Der Begriff sei zu vage und leiste missbräuchlichen Interventionen Vorschub. Aus ähnlichen Gründen steht im Übrigen auch China einer Ausweitung dieses Konzepts kritisch gegenüber.

Trotz zahlreicher Bedenken und Widerstände gelang es dennoch, die "Responsibility to Protect" – für die sich schnell des Kürzel R2P fand, im Schlussdokument des Weltgipfels 2005 politisch zu verankern. Es war ein Durchbruch – wenn zunächst auch nur auf dem Papier:

"Das Problem dabei ist bis heute: Wer entscheidet darüber, ob eine solche Menschenrechtsverletzung und eine Verletzung der Pflichten einer nationalen Regierung vorliegen? Das kann auch weiterhin nur der Sicherheitsrat tun und weil der Sicherheitsrat unter einem Mangel an Legitimität und Effektivität leidet, kommt es dann immer wieder zu Situationen, wo die notwendigen Entscheidungen nicht getroffen werden."

Gunter Pleuger weiß, wovon er spricht: In seiner Zeit als Deutschlands UN-Botschafter hat er für eine Reform des Sicherheitsrates gekämpft, für mehr Transparenz und Effizienz – und verloren. Und der Rat hat auch in Bezug auf die Responsibility to Protect eine durchaus ambivalente Haltung eingenommen: Zwar wurde das Konzept mit der Sicherheitsrats-Resolution 1674 erstmals in einem völkerrechtlich verbindlichem Dokument erwähnt, in der Anwendungen des Konzepts war das höchste Gremium der Vereinten Nationen indessen eher zögerlich. Professor Jose Alvarez von der New York University sieht diese Zurückhaltung eher mit Erleichterung: Der Jurist, der sich auf internationales Recht spezialisiert hat, hält Responsibility to Protect für ein Werkzeug, von dem man lieber die Finger lassen sollte:

"Es ist eine sehr gefährliche Vorstellung. Es bedeutet, dass es von einer Mehrheit im Sicherheitsrat abhängt, ob in einen Staat einmarschiert wird, oder, wenn der Sicherheitsrat zu keiner Entscheidung kommt, dass jeder für sich selbst zu dem Schluss kommt, dass ein Staat seine Bevölkerung nicht schützt, und dann packt man Hinz und Kunz zu einer Koalition der Willigen zusammen und kann überall einmarschieren – das ist das Rezept zu einer Katastrophe."

Professor Alvarez steht mit seinen Vorbehalten nicht allein: Eine ganze Reihe von Völkerrechtlern hat sich kritisch mit der Responsibility to Protect auseinandergesetzt. Dabei richten sich die Bedenken nicht gegen die humanitäre Komponente des Konzepts – der Schutz Unbeteiligter in Konfliktsituationen steht für die Kritiker außerhalb jeglicher Diskussion. Als politisches Werkzeug, um Regierungen beim Schutz ihrer Bürger zu unterstützen oder sie – gegebenenfalls – durch Druck von außen zu zwingen, sei R2P durchaus zu begrüßen, nicht aber als Bestandteil des Völkerrechts:

"Wäre es eine rechtliche Verpflichtung, erhebt sich die Frage, warum wir nicht tatsächlich in jeder ernsthaften Menschenrechts-Krise eingreifen. Die Antwort liegt auf der Hand: Wir können das nicht, wir können nicht überall intervenieren und es ist wahrscheinlich in vielen Fällen auch gar keine gute Idee, zu intervenieren."

Tatsächlich schien das R2P-Konzept – wie viele andere Vorgänge in der UN – über lange Jahre ein reines Schubladen-Dasein zu fristen. Entsprechend überrascht reagierte die Öffentlichkeit, als sich der Sicherheitsrat nun im Zusammenhang mit den jüngsten Libyen-Resolutionen auf das Konzept berief. Vertreter des UN-Generalsekretariat weisen allerdings darauf hin, dass das Konzept keinesfalls über Jahre hinweg übersehen wurde – oder zumindest unbeachtet blieb:

"Von Seiten des Generalsekretariats wurde das Konzept bei den Unruhen nach den Wahlen in Kenia eingesetzt, in Guinea und in Elfenbeinküste, also nicht erstmals im Fall von Libyen."

Edward Luck ist Sonderberater von UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon. Er beschreibt Responsibility to Protect als ein politisches Prinzip, das von den Vereinten Nationen – wenn immer machbar – so umfassend und konsequent wie möglich umgesetzt wird. Libyen sei ein gutes Beispiel dafür, zeige aber auch, dass es sich keineswegs um eine Patentlösung für alle Konfliktherde weltweit handele – jede Lage sei anders und verlange eine individuelle Abwägung der notwendigen – und im Einzelfall passenden Schritte. Diese Haltung hat den Vereinten Nationen gerade in den letzten Wochen erneut heftige Kritik eingebracht: Warum greift die Weltorganisation nicht auch unter Bezug auf die R2P in Syrien ein? Warum geht sie nicht mit gleicher Konsequenz, mit der man Muammar al-Gaddafi in Libyen vom Völkermord abbringen wollte, gegen Syriens Machthaber Baschar al-Assad vor die Armee weiterhin mit brachialer Gewalt gegen Regimegegner einsetzt?

Der Sicherheitsrat erscheint in dieser Frage handlungsunfähig, er konnte sich bislang nicht einmal auf eine verbale Verurteilung Assads einigen, von Sanktionen oder einer militärischen Intervention ganz zu schweigen. Edward Luck führt diese Lähmung des Sicherheitsrates auf die geostrategische Lage Syriens und seine Schlüsselstellung im Jahrzehnte alten Nahost-Konflikt zurück:

"Der Sicherheitsrat ist gespalten in der Frage: Wie soll man mit Syrien umgehen. Das Land ist umgeben von einer ganzen Reihe potentieller Pulverfässer im Nahen Osten und das macht die Mitglieder äußerst vorsichtig. "

Die Pulverfässer, auf die sich Ban Ki-Moons Berater Edward Luck hier bezieht, sind klar identifizierbar: Mit besonderem Argwohn betrachten besonders die westlichen Veto-Mächte USA, Großbritannien gegenwärtig den nach atomarer Rüstung strebenden Iran, aber auch die pro-iranische, radikal-islamistische Schiiten-Organisation Hisbollah, die erst kürzlich eine führende Rolle in der Koalitionsregierung im Libanon eingenommen hat:

"Jegliche Aktion der Staatengemeinschaft gegenüber Syrien würde mit Sicherheit diese beiden, die zugleich gefährliche Waffeneinsätze gegen Israel initiieren könnten, auf den Plan rufen. Davor schrecken die Amerikaner, aber auch die Mehrzahl der Sicherheitsratsmitglieder eindeutig zurück."

Aber neben dieser allgemeinen Risiko-Abwägung blockieren einige Nationen den Sicherheitsrat auch aus durchaus eigennützigen Interessen: China, das es selbst mit den Menschenrechten nicht sehr genau nimmt, fürchtet ein allzu robustes Vorgehen des höchsten UN-Gremiums, wenn es um die Lage von verfolgten oder entrechteter Bevölkerungsgruppen geht. Und Russland denkt zunächst einmal ans Geschäft:

"Ich glaube tatsächlich, dass auch Israel sagt, das, was Assad mit seiner eigenen Bevölkerung macht, ist sicher bedauerlich. Aber ansonsten hat er sich als ein Stabilitätsfaktor erwiesen und hier ist uns Stabilität wichtiger, als das Verfolgen hehrer Menschenrechtsunterstützung."

Das Konzept Responsibility to Protect bleibt damit nicht mehr als eine Option, die aber wohl weit davon entfernt ist, zum Standard-Werkzeug zum Schutz der Menschenrechte weiterentwickelt zu werden. Gegen seine Verankerung im Völkerrecht gibt es auch in der westlichen Welt zahlreiche Vorbehalte, und der Sicherheitsrat füllt seine Schlüsselrolle bei der Umsetzung mit der üblichen Doppelmoral aus, bei der Eigeninteressen wichtiger sind, als der Schutz oder die Rettung von Menschenleben. Aber selbst wenn der Sicherheitsrat tatsächlich konsequenter im Sinne der Menschenrechte entscheiden und – wie im Fall von Libyen – sogar ein militärisches Eingreifen mit entsprechenden Resolutionen beschließen würde, täten sich neue Probleme für die Weltgemeinschaft auf: Wer soll die Hauptlast einer Intervention tragen?

Der aktuelle Einsatz der NATO zeigt, wie schnell das Nordatlantische Bündnis an seine Grenzen gerät – sei es, bei der Rekrutierung von Einsatzkräften oder bei der Verfügbarkeit von Flugzeugträgern oder – ganz schlicht – bei ausreichenden Mengen an Munition. Unter diesen Gegebenheiten ist es kaum vorstellbar, dass die internationale Gemeinschaft in der Lage wäre, neben dem Luftkrieg gegen Ghaddafi eine ähnliche Operation in Syrien zu führen. Fazit: Nicht nur Baschar al-Assad, sondern auch andere Despoten brauchen sich wegen R2P keine allzu großen Sorgen zu machen.