Einfache Dienstleister

Arbeitnehmer in der Abwärtsspirale

Gebäudereiniger laufen mit ihren Arbeitsmaterialien am Gürtel in ein Gebäude.
Die neuen "Lebensmodelle in der Dienstleistungsgesellschaft" findet Friederike Bahl zum Beispiel in der Gebäudereinigung. © picture alliance / dpa-ZB / Ralf Hirschberger
Von Martin Zähringer · 20.12.2014
Um neue, von Armut bestimmte "Lebensmodelle in der Dienstleistungsgesellschaft" geht es Friederike Bahl bei ihren empirischen Befragungen. Den scharfen Blick auf die politische Strategie, die solche Verhältnisse herbeiführt, liefert die Studie "Macht und Herrschaft in der Servicewelt" von Philipp Staab.
"Da hab ick auch mal eine Frage an Ihnen. Wir sind ein hochkultiviertes Land angeblich. Warum gibt es keine Aufsicht, dass die Leute Geld verdienen können, ohne Aufsicht …. Früher, ganz früher, was weeß ick, 16. Jahrhundert, da ist der Robin Hood gekommen. Die Armen hat er dann -, den Reichen das Geld genommen und den Armen det hinjeschmissen. Und’n bisschen für Gerechtigkeit gesorgt. Das gibt’s ja heute gar nicht mehr."
Fragen einer einfachen Arbeiterin? So wäre dieses Zitat im Geiste Bertolt Brechts zu lesen. Aber zum einen ist Magitta, 57 Jahre alt, keine einfache Arbeiterin in der Produktion – sie ist in der Zentralsterilisation eines großen Klinikkomplexes beschäftigt, wo sie einfache Dienstleistungen ausführt. Und zum anderen fragt die Soziologin Friederike Bahl, die das Interview mit Magitta auswertet, nicht nach proletarischem Klassenbewusstsein, sondern nach der Rolle der einfachen Dienstleister in einem soziologisch differenzierten Gesellschaftsbild.
"Dienstklasse" versus "einfache Dienstleister"
Magittas eigenes Gesellschaftsbild weist ungeklärte Widersprüche auf. Friederike Bahl beforscht diesen Widerspruch nicht primär. Ihr geht es um die neuen Schichten in der Dienstleistungsgesellschaft. Dabei unterscheidet sie zwischen einer etablierten "Dienstklasse", zu der neben Beamten und Staatsangestellten auch Kopfarbeiter wie Ingenieure, Architekten oder Banker gehören, und einer Schicht von "einfachen Dienstleistern", die oft gerade dieser Dienstklasse zuarbeiten, so wie etwa Post- und Paketzusteller oder Reinigungskräfte.
In einer empirischen Befragung untersucht Bahl die Arbeits- und Lebensbedingungen der einfachen Dienstleister, am Ende sortiert sie vier neue soziologische Typen: die Enttäuschten, die Aufständigen, die Ironischen. Ein "Ironischer" wehrt sich zum Beispiel gegen die soziale Missachtung, indem er die Kaffeekannen hochnäsiger Bürochefs mit dem Kloputzlappen wischt. Diese rabiate Art von Ironie heißt soziologisch auch "resistente Informalität" und lässt Ahnungen aufkommen von dem, was der formelle Widerstand wohl an Ausdrucksmitteln bereithält. Magitta ist ironiefrei und gehört zur vierten Kategorie, den Zornigen:
"Jetzt will ich Ihnen auch mal was fragen! Warum gibt’s bei uns keene Untergrundorganisation?! Ick meene, sowas sollten wir och mal gründen! Wir zwee vielleicht. … Ick meene: In Irland gibt es dit. In Spanien, nur bei uns nicht. Ich frage Sie: Warum ist das so?"
Gedrückte Stimmung, Unsicherheit und Stress
Die generelle Haltung in der Masse der einfachen Dienstleister ist das nicht. Die Stimmung ist gedrückt, der Lebensstil definiert von Unsicherheit und Stress, wechselnden Jobs bei magerem Einkommen. Und während die jungen, unerfahrenen Einsteiger trotzdem das Letzte aus sich herausholen, weil der Stolz auf körperliche Leistungsfähigkeit oft das einzige sinngebende Motiv für die meist eintönige Arbeit ist, sind Ältere schon einmal gezwungen, einen gebrochenen Zeh mit dem Eisakku zu kühlen, um weitermachen zu können, denn bei Krankmeldung droht die Kündigung.
Bahls empirischer Forschungsgegenstand sind Sozialstrukturen in einer postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft. Theoretisch stehen sie in der Soziologie seit langem auf dem Programm: Jean Fourastié sah schon 1954 eine neue Dienstklasse, die das Industrieproletariat ablösen würde. Friederike Bahl schreibt:
Cover von Friederike Bahl: "Lebensmodelle in der Dienstleistungsgesellschaft"
Cover von Friederike Bahl: "Lebensmodelle in der Dienstleistungsgesellschaft"© Hamburger Edition
"Während die Klassiker einer aufkommenden tertiären Ökonomie vor diesem Hintergrund allein der Möglichkeit der Rückkehr eines Proletariats noch eine Absage erteilt hätten, setzen mit der Sozialstrukturanalyse wichtige Ernüchterungen ein. Stand den Prognostikern Fourastié und Bell eine positive Vision vor Augen, finden sich in der Ungleichheitsforschung erste Autoren einer kritisch-pessimistischen Wende."
Friederike Bahl will in der mitgelieferten theoretischen Diskussion zur Überwindung überkommener Gesellschaftsmodelle beitragen, insbesondere marxistischer Gedankengebäude. Ihr eigener Ansatz hat jedoch das Problem, dass die für den Text ausgewählten Quellen etwas zu passgenau das eigene soziodramatische Gesellschaftsbild illustrieren. Hier ein "Enttäuschter":
"In bestimmten Situationen muss man seinen Mund halten"
"Man muss eben in bestimmten Situationen seinen Mund halten. Dass man in bestimmten Situationen einfach zurückhält, obwohl die Situation, wo man im Recht is' und et sagen könnte, aber man verliert vielleicht, ja? Bevor icke dann ja anecke und dann vielleicht den Kürzeren ziehe, dann sag ick: Okay, dann flieg ick mit sowat auf die Fresse. Und deswegen, in bestimmten Situationen muss man seinen Mund halten. Hab ick gelernt."
Es folgt der gewichtige Kommentar im Stil der Hamburger Sozialwissenschaft:
"Die Enttäuschten sind 'defiziert': Hatten sie einst mit Fantasien beruflichen Aufstiegs und instrumenteller Erfüllung auf die Ermöglichungslogik einer zukunftsbezogenen Arbeitsmarktorientierung gesetzt, ist die gegenwärtige Zukunft auf die Antizipation des Mangels zurückgeschrumpft.
Die Antizipation des Mangels als Lebensperspektive betrifft immer mehr Menschen: Schuften bis zum Umfallen und trotzdem von der Hand in den Mund leben, Abdrängung in deregulierte Arbeitsverhältnisse als Ein-Euro- oder Mini-Jobber oder Pseudoselbständiger wie etwa bei DHL, wirtschaftliches Elend in Generationenfolge und damit soziale Ausgrenzung, Aufstocken durch Transferleistungen und Armut bis zum Lebensende. Diesen Mangel zeigt die Studie der Soziologin Bahl in seinem ganzen dramatischen Umfang.
Die neuen "Lebensmodelle in der Dienstleistungsgesellschaft" findet sie in der Gebäudereinigung und bei Sicherheitsdiensten, in der Altenpflege und im Gesundheitswesen, bei Post- und Paketzustellung und Zeitungsvertrieb, in der Gastronomie. Die einfachen Einkommen reichen nicht zum Überleben, über 70 Prozent der einfachen Dienstleister sind Frauen, solidarische Strukturen gibt es eher in ethnisch-nationaler Gruppenidentität als in gewerkschaftlicher Organisation.

Friederike Bahl: Lebensmodelle in der Dienstleistungsgesellschaft
Hamburger Edition, Hamburg 2014
372 Seiten, 32 Euro

Was Bahl vermissen lässt, den scharfen Blick auf die politische Strategie, die solche Verhältnisse herbeiführt, das wird bei einer parallel erscheinenden Studie von Philipp Staab schon deutlicher sichtbar. Staab wählt einen herrschaftssoziologischen Ansatz, der eher die Effekte der Herrschaft als das Handeln der ökonomischen Subjekte im Blick hat. Und leider führt uns auch Staab oft in den Sperrverhau soziologischer Begrifflichkeit:
"Seit der Privatisierung der Deutschen Bundespost Mitte der 1990er Jahre haben sich die distributiven Dienste zu einem Experimentierfeld postkorporatistischer Regulierung in der bundesrepublikanischen Arbeitsgesellschaft entwickelt."
Cover von Philipp Staab: "Macht und Herrschaft in der Servicewelt"
Cover von Philipp Staab: "Macht und Herrschaft in der Servicewelt"© Hamburger Edition
Immer billigere Arbeitskräfte
Philipp Staab beschreibt eine historische Entwicklung vom tayloristischen Machtsystem der technischen Kontrolle zum postindustriellen System der sozialen Rationalisierung. Interessant ist für diesen Wechsel das Herrschaftsprinzip der "Unterschichtung". Ein Beispiel dafür: Wenn etwa die öffentliche Hand, und das ist im Zuge der Agenda 2010 der Fall, Dienstleistungsaufträge wie das Reinigen und Sichern großer Gebäudekomplexe ständig neu ausschreibt, dann unterbieten sich die Anbieter permanent, forcieren die Abwärtsspirale der Löhne und damit die Entmachtung der Arbeitnehmer, deren Belegschaft durch immer billigere Arbeitskräfte "unterschichtet" wird.
Aufschlussreich im Spannungsfeld von Macht und Herrschaft ist auch das neue Arbeitsregime in der Dienstleistungsgesellschaft, ohne Betriebsrat und Gewerkschaft, ohne Fortbildung oder Betriebsrenten, ohne längerfristige Bestandsgewähr oder relevante Aufstiegschancen – das betrifft gleichermaßen west- wie ostdeutsche Arbeitnehmer. Für etwa zehn Millionen einfacher Dienstleister ist dies die schöne neue Welt im vereinten Deutschland.

Philipp Staab: Macht und Herrschaft in der Servicewelt
Hamburger Edition, Hamburg 2014
398 Seiten, 32 Euro

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