Einfach weggesperrt - und alle sehen zu

Von Otto Langels · 11.11.2011
Die Deportation der Juden aus Deutschland geschah nicht heimlich, sie spielte sich in aller Öffentlichkeit ab. Dies belegt eine Serie von Negativen, die im Stadtarchiv Lörrach entdeckt wurde. Nun sind die Fotos auf einer Ausstellung der Stiftung Topografie des Terrors in Berlin zu sehen.
"Diese Deportationen im Herbst 1940 von etwa 6.500 Juden aus Baden und der Saarpfalz in das französische Internierungslager Gurs an der französisch-spanischen Grenze, Pyrenäen-Grenze, diese Deportation hat Modellcharakter gehabt für alle Deportationen der deutschen Juden im Reichsgebiet dann seit dem Herbst 1941."

Klaus Hesse von der Stiftung Topografie des Terrors über die Deportationen vom 22. Oktober 1940 in Südwestdeutschland. Die Juden wurden von Polizeibeamten festgenommen und mit Bussen oder Lastwagen zu Sammelpunkten in größeren Städten transportiert, unter anderem zu einer Schule in Lörrach. Ein Kriminalpolizist machte dort Aufnahmen, wie die jüdischen Opfer, mit Koffern und Kleiderbündeln in den Händen, auf die Lastwagen warteten, die sie zum Freiburger Bahnhof bringen sollten.

Die Fotografien belegten, so Klaus Hesse, wer auf Seiten der Täter beteiligt war, vor allem aber, dass die Deportationen vor aller Augen stattfanden:

"Man hat im Vordergrund die im Hof einer Schule im Zentrum Lörrachs aufgestellten Opfer, die aus der Sammelstelle herauskommen, dort körperlich durchsucht worden sind, also leibesvisitiert worden sind, deren Gepäck durchsucht worden ist. Wir haben dann in der Mitte des Bildes Angehörige der Geheimen Staatspolizei in Uniform und einen uniformierten Offizier der Ordnungspolizei, der den Transport leitet. Und wir haben im Hintergrund eine relativ große Zahl von Zuschauern, Anwohner, die mit den Armen auf dem Fensterbrett sich dieses Geschehen dort unten auf dem Hof anschauen wie ein Theaterstück, wie eine Theateraufführung. Und wir haben sehr viele Jugendliche und Halbwüchsige, die direkt in diesem Schulhof stehen."

Die Transporte führten noch nicht, wie in den folgenden Jahren, in die Gettos und Vernichtungslager im Osten, sondern nach Frankreich. Für viele war es jedoch nur ein kurzer Aufschub, sie wurden später ermordet.

Wenige Wochen nach den Deportationen fanden in den verlassenen Wohnungen und Häusern Versteigerungen des jüdischen Eigentums statt. Auch davon machte der Lörracher Kriminalbeamte eine Reihe von Aufnahmen:

"Es sind aussagefähige Ausschnittsdokumentationen, die zeigen, wie viele Menschen zu diesen Versteigerungen gingen. Da ging's darum, ob man Pfanne, Topf, Vertiko-Schränke, Schlafzimmer-Ausstattung 50 Prozent oder 80 Prozent günstiger bekommen konnte als auf dem Markt. Alles andere hat diese Leute nicht interessiert."

Die Fotografien zeigen eine erwartungsvolle, heiter gestimmte Menschenmenge; Schnäppchenjäger, die vor Toreinfahrten und Hauseingängen warten. Der Andrang war so groß und ungestüm, dass sich die Vermieterin eines Hauses beim Landrat über Schäden an Gebäude und Garten beschwerte. Die Rosenstöcke und der Gartenvorplatz seien von den anwesenden Personen zertrampelt worden, stellte die Polizei fest. Das Schicksal ihrer deportierten jüdischen Nachbarn ließ die Menschen anscheinend völlig ungerührt.

"Wenn sich da Dutzende von Leuten hinstellen und Schlange stehen nach den Schnäppchen aus den Wohnungen der Verfolgten, dann zeigt das natürlich ganz deutlich, welche schreckliche und erschütternde Indifferenz ganz, ganz große Teile der deutschen Gesellschaft damals gezeigt haben. Diese Menschen strahlen völlig entspannt in die Kamera, 'cheese' würde man heute sagen, da würden ganz viele Handykameras heute klicken in so einem Moment, um das festzuhalten. Die Leute wirken entspannt, die Leute wirken gelöst, es wird offenbar gescherzt und gerufen."

Die Versteigerungen jüdischen Eigentums fanden offensichtlich derartigen Anklang, dass der Auktionator in einer Zeitungsanzeige Anfang 1941 explizit darauf hinweisen musste, dass es sich bei der nunmehr angekündigten Versteigerung um "arischen Besitz" handele.

Bisher ließ sich die Verbindung von Deportation und anschließendem Raub jüdischen Eigentums bildlich nicht überzeugend darstellen. Von Auktionen jüdischen Privateigentums sind bislang nur wenige Bilder bekannt. Mit den Aufnahmen aus Lörrach sei dieser Zusammenhang auf erschütternd-eindrucksvolle Weise nachzuvollziehen, meint der Historiker Klaus Hesse:

"Ich bin überzeugt, dass einzelne der Fotos, die wir in dieser Ausstellung zeigen, in den nächsten Jahren ihren Weg durch die Bildmedien auch machen werden und dann in der Folgezeit immer wieder benutzt werden, möglicherweise einzelne von ihnen auch Ikonencharakter annehmen. Das bedeutet, es ist immer wieder - ich benutze jetzt mal einen unwissenschaftlichen Ausdruck - eine Art Volksfratze entstanden."