Eine Volksunterhaltung

Rezensiert von Elske Brault · 29.05.2007
Das Theater vibriert. Wer in Hamburg auf sich hält, ist zu dieser Premiere gekommen: Die Schauspielprominenz Nina Petri, Burghart Klaussner, Ben Beckers Vater Rolf Becker und andere Prominenz, Firmenchefs, Theaterleiter, Rocksänger Udo Lindenberg. Sie alle wollen Ben Becker in der Rolle von Marlon Brando sehen, in "A streetcar named desire" von Elia Kazan 1951 mit Brando und Vivien Leigh erfolgreich verfilmt und mit "Endstation Sehnsucht" unzureichend übersetzt, denn "Desire" heißt sowohl Sehnsucht als auch Begehren, "Triebwagen Sehnsucht" müsste es richtiger heißen.
Das St. Pauli Theater hat nur 500 rotplüschige Sitze, eng verteilt über ein Parkett und zwei Ränge, die mit ihrer falschen Barockgoldverzierung an "Kinder des Olymp" denken lassen. Hier wurden früher plattdeutsche Volksstücke gespielt, hier flogen Bananenschalen auf die Bühne und ein wenig von dieser Boulevard-Athmosphäre hat sich erhalten. Sie wird noch verstärkt durch die Zwischenmusiken, mit denen Regisseur Wilfried Minks die Umbaupausen auf der dunklen Bühne überbrückt: Das Ehepaar Hubble, eine dickliche Dame mit Bordellwirtinnencharme und ihr farbiger, beeindruckend muskulöser Gatte singen und schmachten einander über die Bühne hinweg an, aus den Logen im ersten Rang. Kein Zweifel, wir sind im Herzen von St.Pauli.

Hier, unter den Hubbles, wohnen Stella Kowalski und ihr Mann Stanley zwischen Plastikvorhängen als Badezimmertrennwand und Couchmöbeln vom Sperrmüll: Edel ist nur der riesige Kühlschrank, stets gut gefüllt mit Bier. Stella hat sich den Mädchen, die vor dem Theater allein laufende Männer angirren, modisch angepasst und trägt Hot Pants und High Heels. Kiezidylle. Doch Stellas Schwester Blanche ist entsetzt. Sie, die feine Dame im weißen Hosenanzug und mit weißen Handschuhen, hat auf dem Landsitz der Familie von silbernen Tellern gespeist. Jetzt sind Geld und Landsitz weg, und Blanche muss voller Abscheu in jener Zweizimmerwohnung unterkriechen, die Stella freiwillig gewählt hat: Wohl wegen der Dinge, die sich im vor unseren Blicken verborgenen Schlafzimmer der Kowalskis abspielen, hinter einem Perlenvorhang mit kitschigem Marilyn-Monroe-Porträt.

Auftritt Ben Becker. Er soll als Stanley Kowalski der schwanzhaftige Schlüssel zu dieser Familienkonstellation sein, soll erklären, warum Stella sich in der Bohémebude wohlfühlt. Und er soll der Motor des Abends sein, soll Blanche gleichermaßen faszinieren wie abstoßen. Am Ende wird er sie vergewaltigen, als Rache für ihre Verachtung, als Fleisch gewordener Sieg der Einwanderer über das in hochkultureller Dekadenz absterbende Bürgertum.

Bloß hat die Sache einen Haken. Ben Becker ist fett. Angeblich hat er drei Monate lang im Boxstudio trainiert, davon sieht man hier nichts, er hat einen Bierbauch. Im besten Fall strahlt er den verschwitzten Sex-Appeal eines feisten Fensterputzers aus, den eine feine Dame sich ins Bett holt in der Hoffnung, sein Schwanz möge so groß sein wie sein Bauch. Was Blanche an Stanley findet, wäre also geklärt. Was die schlanke, jugendliche Stella bei ihm hält, nicht.

Auch wenn Emanuela von Frankenberg dem Titel "Burgtheaterschauspielerin" alle Ehre macht und der überspannten Blanche mit Sarkasmus und intelligentem Wortwitz bewundernswerte Seiten abgewinnt, auch wenn Ben Becker mit seiner tiefen, lauten Stimme dem Stanley eine animalische Brutalität verleiht: Der Abend krankt daran, dass alle zu früh zu sehr festgelegt sind. Blanche ist nur die gefallene feine Dame, die heimlich den Whisky wegsäuft. Stanley ist nur der Proll. Johanna Christine Gehlen als Stella ist gar nichts, versucht sich aber so tapfer als aufrechtes Mädchen durchzubeißen wie in den Rosamunde-Pilcher-Verfilmungen, die sie einem breiten Publikum bekannt gemacht haben.

Bis zur Pause haben die sozialen Klischees auf der Bühne hohen Unterhaltungswert dank des fein gesponnenen Textes von Tennessee Williams. Der Schlagabtausch zwischen Stanley und Blanche ist pointenreich. Doch im zweiten Teil degeneriert der Abend zu einer 50er-Jahre Elia-Kazan-Gedächtnisveranstaltung. Da muss Blanche in einem bodenlangen Tütü-Korsagenfummel sich mit falschen Perlen behängen und so ihr Abgleiten in den Irrsinn plakatieren. Stanley fällt in einem weinroten, rosenbedruckten Satinpyjama über sie her, den selbst der geschmackloseste Lude sich nicht ausgesucht hätte. Und leider geht es danach noch weiter, immer mehr und zum Schluss exakt vom Blatt gespielt: Stella schiebt Blanche in die Irrenanstalt ab und stellt die Vergewaltigung als Hirngespinst hin, um mit Stanley weiter leben zu können.

In Elia Kazans Film kamen ein sehr alter Arzt mit dunklem Hut und eine Schwester in Uniform, um Blanche abzuholen. Hier, mehr als 50 Jahre später, kommen ein alter Arzt mit weißem Schnurrbart und dunklem Hut und eine Schwester in Heilsarmeeuniform. Diese Schlussszene wirkt geradezu wie die Karikatur einer schlechten Kleinstadttheaterinszenierung.

Schmerzlich vermisst man, was im Film einst war: Vivien Leighs vergeistigtes, nobles Spiel der Shakespeare-Schule gegen Marlon Brandos zupackendes Method Acting. Poesie gegen Realitätssinn. Blanche und Stanley sind auch konkurrierende Lebensprinzipien, die für ein erfülltes, vielfältiges Leben einander ergänzen müssen. "Endstation Sehnsucht" kann die Tragik einer missverstandenen Liebe entfalten: Wenn glühende Liebesbriefe nur mit dem Geschlechtsakt beantwortet werden. Doch diese Blanche drischt bloß kultivierte Phrasen, da ist ein flotter Fick mit Fleischberg Stanley allemal besser, sofern man oben sitzen mag.

Man kann sich nicht vorstellen, wie diese auf Volksunterhaltung angelegte Inszenierung außerhalb des St.Pauli-Theaters funktionieren wird, in einem nüchterneren Saal bei den Ruhrfestspielen, die ja als Koproduzenten Geld gegeben haben. Und man mag sich nicht vorstellen, was ein frecherer Regisseur aus dem Stoff rausgeholt hätte. "Er ist eben nicht der Typ für Jasminduft, aber vielleicht ist er genau das, was wir zur Auffrischung unseres Blutes brauchen", sagt Blanche über den polnischen Einwanderer Stanley Kowalski. Das ist Deutschland im Jahr 2007, reformbedürftig, selbstmitleidig, im Erinnerungskoma an vergangene bessere Zeiten, aber durchpulst vom rücksichtslosen Vorwärtsstreben der Immigranten. Es steht alles bei Tennessee Williams. Man hätte es nur inszenieren müssen.

Endstation Sehnsucht
Von Tennessee Williams
Regie: Wilfried Minks
St. Pauli Theater, Hamburg