"Eine Straße in Moskau"

Reise in den Kosmos Russland

Sturm auf das Winterpalais in St. Petersburg (Petrograd) am 7. November 1917.
Mit dem Sturm auf das Winterpalais in St. Petersburg begann die Oktoberrevolution. © picture-alliance / dpa / UPI
Von Olga Hochweis · 22.07.2015
Der Roman "Eine Straße in Moskau" von Michail Ossorgin zeigt einen betagten Professor, seine Enkelin und deren Umfeld zwischen 1914 und 1920. Er beschreibt stilistisch meisterhaft, wie unterschiedlich sie mit den dramatischen Begebenheiten von Oktoberrevolution, Bürgerkrieg und Erstem Weltkrieg umgehen.
Der Siwzev Wrazhek (deutsch: kleiner Graben des Flüsschens Siwka) ist eine besondere Straße in Moskau. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts war die ruhige Gasse mit gerade mal 40 Bürgerhäusern unweit des Arbat eine gute Adresse. Hier lebte der junge Lew Tolstoj bei seiner Großtante. Hier fand die Dichterin Marina Zwetajewa nach dem Auszug aus dem Elternhaus ihr erstes Quartier, und hier spielen Teile des Romans "Doktor Zhivago" von Boris Pasternak. Rund dreißig Jahre vor dessen Erscheinen hat Michail Ossorgin mit einem 1928 im französischen Exil veröffentlichten Roman der Gasse ein Denkmal gesetzt. Schon die ersten Sätze seines Zeitromans "Eine Straße in Moskau" ("Siwzev Wrazhek") zeigen sie als Zentrum des Universums:
"In der Unendlichkeit des Weltalls, im Sonnensystem, auf der Erde, in Russland, in Moskau, in einem Eckhaus der Straße Siwzev Wrazhek saß in seinem Arbeitszimmer im Lehnstuhl der Ornithologe Iwan Alexandrowitsch."
Der komprimierte Mikrokosmos rund um den betagten Professor und seine halbwüchsige Enkeltochter Tanja umfasst ein weiteres Dutzend Figuren – angefangen bei treuen Gästen und alten Freunden des Hauses bis hin zum Dienstmädchen Mascha. In einem kunstvollen Mosaik aus 86 überwiegend realistischen, zuweilen auch symbolisch überhöhten oder traumartigen Szenen begleitet sie der Erzähler, der mal dieser, mal jener Person nahe ist, zuweilen auch einer kleinen Maus im Haus, durch die dramatischen Begebenheiten der Jahre 1914 bis 1920.
Die einen zerbrechen, die anderen machen Karriere
Eine alte Kuckucksuhr, die zu Beginn des Romans kaputt geht, deutet die Zäsur an. Fortan ist die Zeit in diesem Kosmos aus den Fugen geraten. Wie im Vogelflug geht es am Vorabend des Ersten Weltkriegs vom behaglichen Leben der Bourgeoisie mit ihren Teegesellschaften und Hauskonzerten in den Horror des Schützengrabens und Schlachtfeldes, denen einst stolze Verehrer der jungen Hausherrin gar nicht oder nur als körperlich und seelisch Versehrte entkommen. Die Oktoberrevolution und der Bürgerkrieg ertrotzen nicht minder gewaltsam die "Umwälzung der Klassen, (die) Götterdämmerung und (die) Geburt neuer Götzen". Hinrichtungen, Hunger, Angst und Verrohung beherrschen den Alltag, aber auch der Wille zum Überleben und hie und da das Streben nach Liebe und Freundschaft.
So individuell und liebevoll die Figuren entwickelt sind, so detailgenau beschreibt Ossorgin, wie unterschiedlich sie alle mit den gesellschaftlichen und privaten Veränderungen umgehen. Die einen zerbrechen oder nehmen sich das Leben, die anderen machen Karriere. Manche werden wegen Nichtigkeiten verhaftet und hingerichtet. Die anpassungsfähigen Pragmatiker überleben. Der vergeistigte alte Vogelkundler, in dessen Haus längst diverse Mieter wohnen, versetzt notgedrungen seine wertvollen Bücher, um etwas zum mageren Haushalt beisteuern zu können.
Freudig wie ein Kind bringt er im Frühjahr 1920 ein unter Gefahr erstandenes Brötchen aus Weißmehl nach Hause, das er mit der Enkeltochter feierlich verspeist. Es mutet beiden an wie ein erstes Schneeglöckchen, das den Frühling ankündigt. Ein Zeichen der Hoffnung auf Normalität – wie die erste Schwalbe im Frühling 1914, mit der der Roman seinen Anfang genommen hat. Kein Happy End, aber ein Ende mit leiser Hoffnung und viel Liebe zu Russland.
Ossorgin wurde 1922 des Landes verwiesen
"Ich schreibe keine Literatur. Ich beschreibe das Leben." Dieses Zitat von Michail Ossorgin darf man angesichts der sprachlichen und stilistischen Meisterschaft des Romans "Eine Straße in Moskau" gern als Understatement verstehen, obwohl Michail Ossorgin bis zu seinem 50. Lebensjahr, in dem sein Debütroman "Eine Straße in Moskau" erscheint, vorwiegend als Journalist arbeitete.
1878 in Perm als Michail Andrejewitsch Iljin in eine Adelsfamilie hineingeboren, trat der studierte Jurist 1904 in Moskau der Partei der Sozialrevolutionäre bei. Seine politischen Aktivitäten führten zu einem ersten zehnjährigen Exil in Italien. 1916 kehrte Ossorgin zurück nach Moskau. und versuchte trotz der materiellen Not nach der Oktober-Revolution das literarische Leben wieder anzuregen (unter anderem mit einem Schriftsteller-Buchladen). Auf persönlichen Befehl Lenins wurde er schließlich 1922 in der "Operation Philosophenschiff" mit 224 hoch angesehenen Intellektuellen und Journalisten ohne Gerichtsurteil des Landes verwiesen. "Wir haben diese Leute ausgewiesen, weil es keinen Grund gab, sie zu erschießen, sie zu ertragen aber war unmöglich", schrieb Trotzki über diese Aktion.
Kenntnisreich und detailgenau ergänzt die großartige Übersetzerin Ursula Keller mit ihrem lesenswerten Nachwort über Werk und Autor sowie einem umfangreichen, gemeinsam mit Natalja Sharandak recherchierten Anmerkungsapparat einen Roman, den man als kenntnisreiche Reise in den Kosmos Russland lesen kann. Nach Gaito Gasdanov ist mit Michail Ossorgin ein weiterer meisterlicher Stilist der russischen Emigranten-Szene in Frankreich zu entdecken.

Michail Ossorgin: Eine Straße in Moskau.
Roman, übersetzt aus dem Russischen mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Ursula Keller unter Mitarbeit von Natalja Sharandak
Die Andere Bibliothek, Berlin 2015
572 Seiten, 39,50 Euro

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