Eine starke Lobby

Von Georg Gruber · 16.03.2011
Lange galt die Atomenergie auch hierzulande als saubere Alternative zu Kohle, Gas und Öl. Ein Image, das sie vor allem dem im Mai 1959 gegründeten "Deutschen Atomforum" verdankte. Eine mächtige Lobby für die Entwicklung und Nutzung der Kernenergie. Angesichts der aktuellen Situation werfen wir einen Blick zurück: auf die Geschichte des Atomforums und die Nutzung der Kernenergie in der Bundesrepublik.
Demonstranten gegen Atomforum, Wintertagung 2009: "Unter dem Motto, Energieverantwortung für Deutschland spinnt die Atomlobby ihre Märchengeschichten, was Knete bringt, wird schön geredet, Abrakadabra, Atomkraft ist Öko-Energie …"

Februar 2009, Maritim Hotel Berlin, vor dem Hotel Polizisten und Demonstranten, im Hotel tagt das Atomforum.

Hohlefelder: "Wir feiern in diesem Jahr den 50. Jahrestag der Gründung des Deutschen Atomforums. Es waren spannende und nicht immer einfache Jahre - von unglaublicher Aufbruchstimmung über tiefe Depression bis zu neuer Hoffnung."

Eisenhower Rede 1953: "The United States knows that peaceful power from atomic energy is no dream of the future. That capability, already proved, is here--now—today.”"

"Atoms for Peace" - mit dieser Rede vor der UN-Vollversammlung gab der amerikanische Präsident Eisenhower im Dezember 1953 das Startsignal für den Aufbruch in eine neue Zeit: Um die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verhindern, sollte als Gegenleistung die friedliche Nutzung der Atomkraft weltweit vorangetrieben werden. Die stand dann auch im Mittelpunkt einer Konferenz in Genf im August 1955:

Bericht von Konferenz 1955: ""Von den rund 1000 schriftlich eingereichten Arbeiten hat ein Vorbereitungskomitee die 400 Dokumente ausgewählt, die in Kurzfassungen von 10 bis 30 Minuten dem Auditorium vorgetragen werden, etwa die Frage der Atomkraftwerke, die einmal in abgeschiedenen Gegenden ohne Zufuhr von Kohle und Öl werden arbeiten können."

Die Konferenz in Genf mit 2.000 Wissenschaftlern und Fachleuten aus 72 Nationen fand weltweite Beachtung.
Bericht von der Konferenz 1955: "Kleine Versuchsreaktoren, wie die Vereinigten Staaten einen in einem Schwimmbassin ausstellten, wird es in ein paar Jahren zu vielen Dutzenden geben, sozusagen an jeder besseren Universität."

Atomenergie versprach die Lösung aller Energieprobleme, atombetriebene Flugzeuge und Raketen schienen in gar nicht so ferner Zukunft einsatzbereit zu sein. Und der Autobauer Ford stellte 1958 den "Nucleon" vor, ein Modell, das mit einem Reaktor hinter den Sitzbänken eine Reichweite von bis zu 8000 Kilometern haben sollte - in Serie ging das Auto freilich nie.

Ernst Bloch, "Das Prinzip Hoffnung", erschienen 1959: "Wie die Kettenreaktionen auf der Sonne uns Wärme, Licht und Leben bringen, so schafft die Atomenergie in der blauen Atmosphäre des Friedens aus Wüsten Fruchtland, aus Eis Frühling."

Schrieb der Philosoph Ernst Bloch.

Zitator Ernst Bloch, "Prinzip Hoffnung": "Einige hundert Pfund Uranium und Thorium werden ausreichen, um die Sahara und die Wüste Gobi verschwinden zu lassen, Sibirien und Nordamerika, Grönland und die Antarktis zur Riviera zu verwandeln."

Traube 2009: "Es war ja gesellschaftlich überhaupt nicht umstritten, gesellschaftlich war das von links bis rechts als der Fortschritt besetzt."

Klaus Traube, Jahrgang 1928: "Das galt damals für einen jungen Ingenieur als das Interessantestes, als das Aussichtsreichste."

Traube machte in den Sechzigerjahren in der Atomwirtschaft Karriere, war maßgeblich an der Entwicklung des Schnellen Brüters in Kalkar beteiligt – und wechselte Ende der Siebzigerjahre das Lager. Bis heute gehört er zu den profiliertesten Kernkraftkritikern.

Birkhofer: "Für mich war das einfach etwas völlig neues, was später Ende der 60er Jahre die Raumfahrt war,"

Adolf Birkhofer, Jahrgang 1934, Experte für Reaktorsicherheit, Kernkraftbefürworter bis heute.

Birkhofer: "es war ein Gebiet, das sehr international war, zu Beginn schon, und mich damals schon sehr interessiert hat. Zweitens war es ein Gebiet, jetzt spring ich auf die Auslegbarkeit von Kernkraftwerken hin, wo man sehr viel rechnen musste und das Ergebnis der Berechnungen an der Betriebnahme der Kernkraftwerke hat gesehen."

Die Deutschen waren Nachzügler im modernen Atomzeitalter: Die alliierten Siegermächte hatten den Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg jegliche Art von Kernforschung verboten, dieses Verbot blieb mit geringfügigen Lockerungen bis zum Mai 1955 in Kraft, als die Bundesrepublik ihre Souveränität erhielt.

Heisenberg 1952: "Wir können nicht auf den Ausbau unserer industriellen Lebensgrundlagen verzichten, nur weil als nachträgliche unerfreuliche Folge der nationalsozialistischen Politik hierbei auch Misstrauen geweckt werden kann."

Werner Heisenberg, der Physik-Nobelpreisträger von 1932, war eine Schlüsselfigur, er gehörte zu denjenigen, die sich schon in den frühen Fünfzigerjahren für die friedliche Nutzung der Kernenergie in Deutschland einsetzten.

Heisenberg 1952: "Man muss sich vielmehr klarmachen, dass zwischen einem Atommeiler für radioaktive Produkte und einer Atombombenfabrik ungefähr der gleiche Unterschied besteht wie zwischen einer Penicillinfabrik und einer Giftgaserzeugungsanlage."

Auf 10 bis 15 Jahre schätzte man den technologischen Rückstand Westdeutschlands gegenüber den USA. 1955 wurde ein Bundesministerium für Atomfragen gegründet und Atomkommissionen bei Bund und Ländern wurden eingerichtet. Der erste deutsche Atomminister hieß Franz Josef Strauß:

"Es geht uns nicht um militärische oder politische Macht. Es geht uns nicht um Prestige. Es geht uns aber wohl darum, für das deutsche Volk den mühsam wieder gewonnenen Platz unter den Industrienationen dieser Welt zu behaupten und zu sichern. Wir können die Bedeutung auch dadurch zum Ausdruck bringen, dass wir sagen, eine Nation, die auf dem Gebiet der Wissenschaft und Atomwirtschaft nicht Gleichstand und Konkurrenzfähigkeit mit den übrigen Völkern aufweisen kann, wird allmählich einem Prozess der Deklassierung unterliegen."

Wissenschaft, Politik und Industrie waren in einem Wechselspiel die treibenden Kräfte bei der Entwicklung der Kernenergie, eine Dynamik, die in den 50er Jahren einsetzte.

Traube: "Ganz zu Anfang war es hauptsächlich die Lobby der Physiker, die sich über die friedliche Nutzung reinwaschen wollten von dem Makel Atombombe und in dem Maße, wie die die Politik rumgekriegt hatten, für die Atomenergie zu engagieren, und in dem Maße, wie da Forschungszentren entstanden, waren es vor allen Dingen Politiker und die Forschungszentren."

Der langjährige Atom-Manager Klaus Traube.

Traube: "Es fing an, weil es Forschungsmittel gab, die Industrie sich zu engagieren, damals waren es ungefähr zwölf Firmen, die meinten, Atomkraftwerke bauen zu können, eine völlige Überschätzung dessen, der Materie. Ganz zuletzt engagierten sich als Lobbyisten die, die heute die übrig gebliebenen Lobbyisten sind, nämlich die Verstromer, die großen Verbundunternehmen, die anfangs von der Politik geradezu beschworen werden mussten, hier einzusteigen und anfangs gar kein Interesse hatten an der Atomindustrie, so hat sich das gewandelt, dieser Lobbyismus."

Auch wenn dies öffentlich abgestritten wurde: ein Ziel der deutschen Atompolitik war die Atombombe. Der Historiker Joachim Radkau:

"Adenauer dachte noch in ganz alter Weise, ein souveräner Staat muss auch über die modernsten Waffen verfügen und zumindest die Chance des Baus von Atomwaffen müssen wir uns offen halten, obwohl er als Bedingung der bundesdeutschen Aufnahme in die Nato eigentlich auf bundesdeutsche Atomwaffen verzichtet hatte."

Kalenderblatt 1957 - das Atomei in Garching:
Journalist: "Schauen wir uns einmal das Herz des Reaktors an. .. Mit wie viel Uran wird im Herzen des Reaktors gearbeitet?"

Professor: "Im normalen Betrieb vier Kilogramm Uran. Dazu kommt eine viermal so große Menge von Uran 238, die mit der Hauptquelle 235 mitgeliefert worden ist, weil die Verträge mit den USA vorsehen, dass nur Uran verwendet werden darf, das mit 20 Prozent angereichert ist."

Der erste Versuchsreaktor ging bereits 1957 in Betrieb, das Atomei in Garching bei München. Zwei Jahre später wurde 1959 das Deutsche Atomforum gegründet, ein Zusammenschluss von vier bereits bestehenden Institutionen. Hintergrund, so Joachim Radkau:

"Der Bau des ersten amerikanischen Kernkraftwerkes Shippingport hatte gezeigt, dass Atomkraftwerke doch sehr viel teurer und unrentabler waren, als man 1955 angenommen hatte, die zweite Genfer Atomkonferenz 1958 hatte im Zeichen allgemeiner Ernüchterung gestanden, auch in der Bundesrepublik begann die Anhängerschaft das so genannten friedlichen Atoms zu bröckeln, damals hat sogar Adenauer geflucht: diese verfluchte Atomgeschichte hat uns allen den Kopf verdreht."

Führender Kopf des Atomforums war bis in die Siebzigerjahre der Präsident, Karl Winnacker, vor 1945 bei IG Farben in leitender Funktion und seit 1952 Vorstandsvorsitzender der Hoechst AG.

Radkau: "Entscheidend ist, dass Winnacker ein alter IG Farben-Mann war und dass er hinter den Kulissen das alte autarkistische Konzept der IG Farben während der Nazizeit fortsetzte. Es gab damals so das Witzwort "Entscheidungen der Atompolitik fallen auf höchster Ebene" und "höchster Ebene" war doppelsinnig gemeint, weil ja auch Farbwerke Hoechst."

Im Gästehaus von Hoechst war auch das erste Atomprogramm 1957 ausgehandelt worden, dem in den Sechziger- und Siebzigerjahren noch drei weitere folgten, mit milliardenschweren staatliche Investitionen in die Entwicklung der Kernenergie. Im Präsidium des Atomforums waren Vertreter von Siemens, Degussa und Bayer, Werner Heisenberg als Repräsentant der Wissenschaft sowie Bundestagsabgeordnete aller drei Parteien CDU, SPD und FDP. Karl Winnacker im Rückblick:

Karl Winnacker, Karl Wirtz: "Das unverstandene Wunder. Kernenergie in Deutschland", Econ-Verlag, 1975:
"Sehr bald gehörten zu den Mitgliedern, außer Firmen und Einzelpersonen, auch Vertreter öffentlicher Körperschaften, der Bundesministerien und Bundesbehörden, der Landesministerien und deren Behörden."

So begann die Verquickung der Atomlobby mit Politikern und Behördenvertretern, die später heftig kritisiert wurde und bei der sich das Atomforum heute sehr bedeckt hält.

Karl Winnacker, Karl Wirtz: "Das unverstandene Wunder. Kernenergie in Deutschland", Econ-Verlag, 1975:
"Hauptaufgabe des Deutschen Atomforums war die Förderung der Kernenergie im Bewusstsein der Öffentlichkeit. (…) Im Laufe der Jahre gelangte die Presse zu einer recht sachlichen Berichterstattung. Ohne sie wäre die gesamte Arbeit für die Kernenergie, besonders auch die Beschaffung der staatlichen Mittel, gar nicht möglich gewesen."

Das Atomforum veröffentlichte in einer eigenen Schriftenreihe, produzierte Filme und Wanderausstellungen. 1969 wurde die Kerntechnische Gesellschaft gegründet, 1975 der Informationskreis Kernenergie, beide stehen in enger Verbindung zum Atomforum. Auf Konferenzen wie der Wintertagung und der Jahrestagung Kerntechnik trifft sich alles, was in der Kernenergie Rang und Namen hat.

In den Sechzigerjahren trat das Atomforum zweimal besonders in Erscheinung. 1961 drängte Winnacker auf den Bau von großen Kernkraftwerken, auch wenn dazu staatliche Subventionen notwendig seien. Der Historiker Joachim Radkau:

"In einer Situation, in der die Energiewirtschaft von sich aus überhaupt kein Interesse hatte, Kernkraftwerke zu bauen, wir erstickten ja an unserer Kohle, das Öl war spottbillig, es gab gar keinen Grund."

Damals erklärte sogar der Atomminister Siegfried Balke:

"Gegenwärtig hätte der Bau von Kernkraftwerken in der Bundesrepublik keinen Sinn, allenfalls in der Arktis oder Antarktis, Kernkraftwerke für die Pinguine, in dieser Situation schoss das Atomforum quer und drängte massiv auf den staatlich subventionierten Bau großer Kernkraftwerke und da hat es sich auch durchgesetzt."

Auch in der Kontroverse um einen deutschen Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag positionierte sich Winnacker an der Spitze des Atomforums deutlich - gegen den Vertrag.

Radkau: "Interessant ist nun, dass die Energiewirtschaft mit Heinrich Mandel an der Spitze, dem Atompapst der Siebzigerjahre, RWE, ganz entschieden für den Sperrvertrag eintrat. Dem waren Winnackers nationalpolitische Überlegungen völlig wurscht, die wollten möglichst preiswert bauen, in Kooperation mit den USA, wollten sich die amerikanische Lieferbereitschaft nicht verscherzen, und Winnacker und das Atomforum mussten einschwenken."

Die Energiewirtschaft und besonders RWE hatten sich lange nicht für Kernkraft begeistert. Sie war zu teuer. Der Durchbruch für die Kernenergie in Deutschland kam Ende der Sechzigerjahre, als RWE mit Biblis das größte Kernkraftwerk der Welt in Auftrag gab. Die Politik hatte kräftig nachgeholfen. So hatte Bundesforschungsminister Gerhard Stoltenberg RWE aufgefordert, einen "Katalog von Bedingungen" zusammenzustellen, unter denen RWE in die Kernenergie einsteigen würde.

Radkau: "Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft", S. 212:
"Als unerlässliche Voraussetzung" für die Einführung von Kernenergie"

heißt es in der Antwort von RWE, erscheine

Radkau, S. 212:
"ein Anwachsen des Elektrizitätsverbrauchs in etwa gleichem oder gar stärkerem Umfang, als er in den letzten Jahren zu beobachten war."

Es gab also keine Stromlücke, die durch Kernkraft geschlossen hätte werden müssen, im Gegenteil. Außerdem forderte RWE, es müsse Schluss gemacht werden mit der "Erdgas-Propaganda",

Radkau, S. 213:
"der "trügerischen Hoffnung auf erhebliche Preisermäßigungen für das Gas beim letzten Konsumenten.""

RWE forderte auch, dass die "gegenwärtige Unsicherheit beim Genehmigungsverfahren" behoben werden müsse.

Noch war die friedliche Nutzung der Kernenergie in den Fünfziger- und Sechzigerjahren gesellschaftlich weitgehend akzeptiert. Atomenergie war für die APO und die Studentenbewegung kein Thema. Der Historiker Joachim Radkau

Radkau: "Man darf auch nicht vergessen, die Kernenergie hatte ziemlich lange auch so einen progressiven linken Touch gehabt, die frühen Kritiker der Kernenergie, die kamen ja gar nicht von der Linken. Der Gründer vom Weltbund zum Schutze des Lebens, Günther Schwab, war ein Forstwirt mit Nazivergangenheit, für Linke war der gar nicht zitierbar, obwohl er sehr kluge Argumente vorgebracht hat."

Bundesweite Aufmerksamkeit erreichte erst der Widerstand gegen den Bau eines Atomkraftwerks im badischen Wyhl Mitte der Siebzigerjahre.

Traube: "So, und dann wuchs das innerhalb weniger Jahre zu einer großen Demonstrationsbewegung."

Klaus Traube, damals noch Geschäftsführer von Interatom.

Brokdorf, Kalkar, Gorleben, Wackersdorf heißen weitere Stationen der Antiatombewegung, die immer mehr Zulauf erhielt. Zehntausende, hunderttausende demonstrierten gegen die Kernkraft.

Die Atomlobby versuchte gegen zu steuern. Das Atomforum veröffentlichte schon 1973 eine Broschüre, die in hoher Auflage verteilt wurde, mit dem Titel "66 Fragen, 66 Antworten. Zum besseren Verständnis der Kernenergie." Verfasst von Johannes Koppe, Kraftwerksplaner bei den Hamburgischen Elektrizitätswerken, der 1979 als DDR-Spion enttarnt wurde, sich aber vor seiner Verhaftung in den Osten absetzen konnte.
Koppe S. 10, Herr Koppe klärt auf, Feature, Autor Rainer Link, Deutschlandfunk, 23.01.2007:
"Ich war beim Deutschen Atomforum in einem Ausschuss "Öffentlichkeitsarbeit". Ja, da liefen natürlich viele Fragen und Antworten zusammen. Und da dachte ich, das kann man ja mal zusammenfassen. Das machen wir zusammen mit einer Werbeagentur. Na ja, hab ich`s mal aufgeschrieben und erst mal für interne Zwecke erst mal."

Eine Broschüre, in der die Gefahren der Kernenergie heruntergespielt wurden.

Herr Koppe klärt auf, Autor: Rainer Link, DLF 23.01.2007:
"Wenn eine Million Menschen sich eine Stunde in der Umgebung eines Kernkraftwerkes aufhalten, beträgt die Zahl der Unfälle gerade mal 0.00001. Bei einer Stunde Sportfliegen aber 260. … Auch unsere natürlichen Lebensmittel sind keineswegs so harmlos, wie wir das meist glauben möchten. Camembert und andere Käsesorten … enthalten hochtoxische Verbindungen."

Die sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt und die CDU/CSU-Opposition standen hinter der Kernenergie. Die sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt und die CDU/CSU-Opposition standen hinter der Kernenergie. Bundeswirtschaftsminister Hans Friderichs, FDP, verteidigte die Kernenergie auf einer Veranstaltung des Atomforums 1977:

Reaktortag des Atomforums in Mannheim 1977:
"Ich bin der Meinung, wir sollten in aller Offenheit sagen, wo stünden wir 1980, wenn die jetzt am Netz befindlichen Kernkraftwerke weiterliefen, aber kein einziges hinzukäme. Um wie viel sinkt dann das Sozialprodukt, um wie viel steigen die Arbeitslosenziffern, wie sieht die Landschaft aus. (…) Ich möchte nämlich, dass die, die zu dieser Energie nein sagen, wenigstens sagen müssen, was sie zu den Folgen zu sagen haben, denn so einfach geht es nicht."

Die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten eskalierten. Zukunftsforscher Robert Jungk prägte in Anlehnung an Eugen Kogons Buch "Der SS-Staat" das Schlagwort vom "Atom-Staat". Als der Spiegel aufdeckte, dass Klaus Traube, der Geschäftsführer von Interatom, vom Verfassungsschutz ausspioniert und abgehört wurde, schien sich die Warnung zu erfüllen. Traube wurde – zu Unrecht – verdächtigt, mit RAF-Terroristen gemeinsame Sache zu machen.

Traube: "Also der Spiegel hat das sehr schön inszeniert, bevor er meine Akten veröffentlicht hatte, hat er 14 Tage vorher Robert Jungk, späterer Freund von mir einen Essay angeboten über den Atomstaat."

Robert Jungk im "Spiegel", 7.3.1977: "Selbstverständlich kommt der totale Atomstaat nicht von einem Tag auf den anderen. Und natürlich nicht durch einen Staatsstreich, sondern streng legal. In Frankreich, England, der Bundesrepublik, den USA wurde und wird jede Freiheitsbeschränkung möglichst schon vorher, schlimmstenfalls nachträglich durch Aufhebung alter oder Formulierung neuer Gesetze abgesichert."

Traube: "Und so wurde diese Verbindung hergestellt. Es gibt auch durchaus Verbindungen, hier das Bespitzeln, dennoch ist das Bild vom Atomstaat eine Übertreibung, die so nie eingetreten ist, wie Robert Jungk es gemalt hat."

Robert Jungk, "Spiegel" im 7.3.1977:
"Könnte es sein, dass den Mächtigen an dem Apparat zum Schutz künftiger Energiequellen im Grunde noch mehr liegt als an dem Strom, den diese Anlagen bringen?"

Als das Deutsche Atomforum 1979 20-jährigen Geburtstag feierte, zog der WDR kritisch Bilanz.
WDR Zeitzeichen, 26.05.1979, Autor: Hagen Beinhauer: "Die umfängliche Chronik der Stellungnahmen, Gutachten und Denkschriften des Deutschen Atomforums ist denn auch eine Chronik massiver Einflussnahme auf die Kernenergiepolitik in diesem Lande, die bis hin zu den beratenden Kommissionen der Politik reichte, über deren Zusammensetzung des Atomforum eifersüchtig wachte.

Das Deutsche Atomforum ist die Schaltstelle der Kernenergielobby in diesem Lande, der strategische Braintrust, bei dem alle Fäden zusammenlaufen, das war schon zu jener Zeit so, als die Kernenergielobby noch mit der Atomkommission mitten im Zentrum politischer Entscheidungen saß."

Traube: "Das Atomforum hat keine eigenständige Rolle gehabt, sondern die Stichwortgeber für das Atomforum waren diejenigen, die das trugen und mehr davon verstanden, als die zwei drei Hanseln, die dann als Geschäftsführer von dem Atomforum berufen wurden, die wiederholten das, was ausgebrütet wurde bei den großen EVUs vor allen Dingen,"

… den Energieversorgungsunternehmen …

Traube: "aber auch in der Reaktorindustrie und den Reaktorforschungszentren, die natürlich inzwischen auch eine eigenständige Medienmacht entwickelt haben, also das Atomforum hat nicht eigenständig Strategien entwickelt, sondern hat sich Strategien entwickeln lassen, hat dann als Verstärker und Sprachrohr gegenüber den Medien gewirkt."

Wobei sich Ende der Siebzigerjahre schon abzeichnete, dass die Antiatombewegung siegreich vom Platz gehen könnte. 1979 gab Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Albrecht das Aus für die geplante Wiederaufbereitungsanlage in Gorleben bekannt:
Albrecht:
"Obwohl ein nukleares Entsorgungszentrum sicherheitstechnisch grundsätzlich realisierbar ist, empfiehlt die niedersächsische Landesregierung der Bundesregierung, das Projekt der Wiederaufbereitung nicht weiter zu verfolgen."

Klaus Traube, der abgehörte Atommanager, wechselte Ende der Siebzigerjahre in das Lager der Kernkraftkritiker, der letzte Anstoß war für ihn der Reaktorzwischenfall in Harrisburg in den USA:

"Da hab ich das nachverfolgt, was da geschehen war und da hab ich plötzlich gemerkt, mein Gott noch mal, das wird nicht das einzige Mal sein."

Der Sicherheitsexperte Adolf Birkhofer hatte mit so einem Unfall nicht gerechnet.
Birkhofer: "Ich musste das ja dann alles genau prüfen, für die Reaktorsicherheitskommission, ob es irgendwelche Rückschlüsse gibt, wir hatten natürlich begonnen, sehr viel intensiver dann über den menschlichen Einfluss zu diskutieren."

Die Politik hielt weiter an der Kernkraft fest. Auch 1986, nach Tschernobyl, gab es für die Regierung Kohl keinen Zweifel an der Sicherheit, während der Unfall für die Antiatombewegung eine weitere Bestätigung ihrer Kritik an der Atomkraft war.

Birkhofer: "Die haben gesagt, Tschernobyl ist überall, (lacht) oder? - Und die korrektere und differenziertere Frage war immer: können bei uns Unfälle passieren mit massiver Freisetzung?"

Damals geriet das Deutsche Atomforum durch eine missglückte PR-Kampagne in die Schlagzeilen. Mit einer 10 Millionen DM teuren Werbe-Kampagne Pro Kernenergie sollten die Bürger beruhigt werden, vorgeschickt wurde die "Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke". Die bezahlte großformatige Anzeigen in Tageszeitungen, in denen der Präsident der Bundesärztekammer Vilmar erklärte, dass die Wahrscheinlichkeit gesundheitlicher Schäden durch Tschernobyl "äußerst gering" sei. Der Ärztepräsident forderte seine Kollegen auf, sie sollten ihre Patienten aufklären, um "unsinnigen Spekulationen, Unsicherheit und Hysterie" zu begegnen.

Lutz Mez: "Wir haben ja eben in der Stromwirtschaft so eine Situation, wenn es erforderlich ist, setzen sie den BDI für sich ein oder einen Fachverband für ihre Interessen ein, aber eigentlich müssen sie es nicht, weil sie so stark aufgebaut sind mit ihrer Public Relations Abteilung, dass sie es im Grunde alleine machen können, oder sie machen es dann auch wieder zusammen, die vier Großen, teilweise mit Gewerkschaftsunterstützung, da haben wir wieder so ein Filzphänomen."

Lutz Mez von der Forschungsstelle für Umweltpolitik an der Freien Universität Berlin. Die vier Großen sind heute: RWE, E.ON, EnBW und Vattenfall. Zusammen beherrschen sie ungefähr 80 Prozent des deutschen Strommarktes.

Trotz aller Lobby- und PR-Arbeit mussten große Projekte der Atomwirtschaft aufgegeben werden: vor allem der Bau des Schnellen Brüters in Kalkar und der Bau einer Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf. 1998 schließlich siegte Rotgrün bei der Bundestagswahl, und erstmals übernahm mit den Grünen die Partei Regierungsverantwortung im Bund, die maßgeblich aus der Anti-Atombewegung heraus entstanden war. Drei Jahre später verkündete Gerhard Schröder:

"Mit den soeben geleisteten Unterschriften haben wir uns abschließend darauf verständigt, die Nutzung der Kernenergie geordnet und wirtschaftlich vernünftig zu beenden."

Mancher Grünen-Politiker hatte sich einen schnelleren Ausstieg erhofft –wurde aber von der Realpolitik eines besseren belehrt. "Die Lobby regiert das Land" heißt ein Buch, das der ehemalige Bundestagsabgeordnete Christian Simmert 2002 veröffentlichte.

Christian Simmert: "Da wurde gedroht mit dem Ausstieg aus dem Bündnis für Arbeit, da wurde mit Arbeitsplatzabbau gedroht, da wurde mit allem möglichen gedroht, um sozusagen eine möglichst lange Ausstiegsfrist hinzubekommen. Diese Drohungen zeigen natürlich Wirkung, auch auf Seiten der Bundesregierung."

Die 2005 gebildete große Koalition hat den Ausstiegsbeschluss nicht angetastet, aber die Lobbyisten der Atomindustrie schöpfen neue Hoffnung. Sie versuchen, der Kernkraft ein fortschrittliches Image zu verpassen und Atomkraftwerke als Option für den Klimaschutz anzubieten. Tatsächlich ist schwer einzuschätzen, wie stark die Ablehnung der deutschen Bevölkerung gegen Atomenergie zur Zeit ist. Der Kampf zwischen den Lobbyisten und den Atomkraftgegnern geht weiter – wie die Demonstrationen gegen die Wintertagung 2009 des Atomforums zeigten …

Demonstration gegen Wintertagung 2009: "Atomlobbyisten! Eure unflexiblen Monsterkraftwerke brauchen wir nicht, die Zukunft gehört der Energie aus Sonne, Wind und Wasser!"

Mit der Bundestagswahl im Herbst 2009 wendet sich das Blatt zugunsten der Atomkraftlobby. Die schwarzgelbe Koalition nimmt den rotgrünen Ausstiegsbeschluss zurück. Im September 2010 beschließt das Kabinett ein neues "Energiekonzept", mit dem die Laufzeiten der Kernkraftwerke verlängert werden, um durchschnittlich 12 Jahre - trotz Protesten von Seiten der Opposition. Doch ob es zu einer wirklichen Renaissance der Atomkraft in Deutschland kommt, ist fraglich.

Angela Merkel: "Denn die Ereignisse in Japan, sie lehren uns, dass etwas, was nach allen wissenschaftlichen Standards für unmöglich gehalten wurde, doch möglich werden könnte. Sie lehren uns, dass Risiken, die für absolut unwahrscheinlich gehalten wurden, doch nicht vollends unwahrscheinlich sind."

Angela Merkel am 14. März 2011. Nach den Reaktorunfällen in Japan steht die Kernenergie in Deutschland nun wieder zur Disposition.

Merkel: "Genau aus diesem Grunde, werden wir die erst kürzlich beschlossene Laufzeitverlängerungen der deutschen Kernkraftwerke wieder aussetzen. Und dies ist ein Moratorium und dieses Moratorium gilt für drei Monate. Über das, was das für die einzelnen Kernkraftwerke bedeutet, sind wir mit den Betreibern im Gespräch. Damit kein Zweifel besteht, die Lage nach dem Moratorium wird eine andere sein, als die Lage vor dem Moratorium. Wir werden in der Zeit des Moratoriums ausloten, wie wir den Weg in das Zeitalter der erneuerbaren Energien forcieren und dieses Ziel noch schneller erreichen."