Eine Stadt schrumpft sich gesund

Von Christoph Sterz · 04.04.2013
Einwohnerschwund, hohes Durchschnittsalter, wenig Industrie: Suhl muss oft herhalten als Beispiel für den Niedergang. Doch es gibt viele Suhler, die ihre Stadt noch lange nicht aufgegeben haben - und im Schrumpfen auch Chancen sehen.
Auf der Rennsteigstraße im Norden von Suhl. Ein Sechsgeschosser zeigt sein Inneres: Kahle graue Wände; Türöffnungen, die ins Nichts führen; davor ein Hügel aus Betonbrocken und Draht. Zwei Bagger sortieren das, was mal Plattenbau war, unter den Augen von Arnd Hopp, dem technischen Leiter der städtischen Wohnungsbaugesellschaft. Für Hopp, grün-ocker-gestreifte Wollmütze, ein in die Tage gekommener Bart, ist es einer der vorerst letzten Abrisse in Suhl-Nord.

"Schließt jetzt eigentlich unser Abrissvolumen von dreieinhalb tausend Wohnungen, so round about dreieinhalb tausend Wohnungen ab, recht viel. Was wir als Städtische abgerissen haben. Und die Genossenschaft auch ungefähr 2000. Also Suhl hat da enorm viel Wohnungen rückgebaut."

Seit über zehn Jahren geben Presslufthammer und Bagger den Ton an im Stadtteil. 2001 wurde ein erstes Konzept beschlossen, als Reaktion auf den starken Bevölkerungsrückgang seit der Wende. Ein Ziel der Planer: Das Wohngebiet Suhl-Nord bis 2025 komplett verschwinden zu lassen, und stattdessen Gewerbe anzusiedeln.

"Das ISEK, das integrierte Stadtentwicklungskonzept, endet eigentlich an dem Standort hier mit dem Objekt. Es gibt noch weiter hinten in der nördlichen Ausuferung des Wohngebietes eins, was wir dieses Jahr wegnehmen. Und dann ist es erstmal an der Stelle geschafft und noch drei Würfelhäuser weiter in die östliche Richtung."

Suhls Hochzeiten sind lange vorbei
Während Hopp über das Abrissprojekt redet, fahren die beiden Bagger auf dem Gipfel des Schutthügels herum, sortieren Drahtteile an die eine und Betonbrocken an die andere Stelle. Sie bringen hier etwas zu Ende, das Mitte der 70er-Jahre noch stolz hochgezogen wurde: Damals kamen viele Neubürger nach Suhl, die DDR-Bezirksstadt wuchs schnell, von 25.000 auf fast 60.000 Einwohner innerhalb von 30 Jahren. Die meisten Neu-Suhler wurden heimisch im neuen Plattenbau-Viertel, auf einem Hügel am Rande der südthüringischen Stadt. Zu Hochzeiten lebten hier mal um die 15.000 Menschen. Suhl hatte eine Offiziershochschule, ein Motorradwerk, ein Wohnungsbaukombinat und eine Fabrik für Elektrogeräte. Zeiten, die lange vorbei sind.

"Der Bedarf wird sicherlich noch wachsen für Abriss, ja. Leider Gottes. Demographischer Wandel, Stichwort."

Arnd Hopp schaut kurz ratlos auf die Baustelle, dann verabschiedet er sich, er will weiter.

"So, ich geh denen trotzdem mal hinterher, den beiden Kollegen, ne. Schönen Gruß."

Dass Suhl-Nord als Wohngegend aufgegeben wurde, dass Suhl mit einem massiven Einwohnerschwund zu kämpfen hat, das wissen die Suhler auch in der schmucken Innenstadt mit den herausgeputzten Fachwerkhäusern.

Ein Mann, weit über 70, lässt sich in der Fußgängerzone von den ersten zarten Strahlen der Frühlingssonne wärmen. Fast regungslos steht er da, mit dem Gesicht gen Himmel. Auf die Frage, was er von Suhl hält, kneift er seine buschigen Augenbrauen zusammen und bringt dann auf den Punkt, wie die meisten Suhler die wechselhafte Geschichte ihrer Stadt wahrnehmen.

"Wir haben hier Arbeit und Brot gehabt, und haben hier Familien gegründet, haben unsere Familie großgezogen. Die Kinder sind ausgeschwärmt, bedingt durch Arbeit. Und dann macht man sich wohl schon mal Gedanken, wenn man zurückschaut und kommt ins Grübeln und sagt: Ei, wie soll das noch mal weitergehen?"

Tatsächlich sprechen die Zahlen gegen Suhl: Das Durchschnittsalter liegt um die 50, seit 1990 hat die Stadt fast jeden dritten Einwohner verloren, jetzt sind es unter 40.000. Bis 2030 könnten es noch einmal 10.000 weniger sein.

Deutschlands Schrumpfstadt
Suhl muss oft herhalten als Deutschlands Schrumpfstadt, als der Ort im Land, den der demographische Wandel am schlimmsten getroffen hat. Das kann mutlos machen. Es kann aber auch sorgen für ein "Jetzt erst recht" – und genau das lässt sich erleben in Suhl; zum Beispiel im Roten Rathaus.

Oberbürgermeister Jens Triebel geht schnellen Schrittes die Treppenstufen hoch, auf dem Weg in sein Büro. Kurz vor der Tür bleibt er stehen und spricht mit einem seiner Mitarbeiter über anstehende Veranstaltungen.

Weiter geht’s in Triebels Büro. Ein großer Raum, die Fenster Richtung Marktplatz, aufgeräumter Schreibtisch. An der Wand hängt das Porträt einer nackten Frau. Ein Gemälde von Willi Sitte, einem der wichtigsten DDR-Maler, erklärt Triebel. Ein anderes Bild in seinem Büro erwähnt er erst auf Nachfrage: Ein breit grinsender grüner Frosch ist darauf zu sehen, "Lach doch mal" steht darüber.

"Der ist natürlich so platziert, dass wenn ich etwas frustriert über den letzten Zeitungsartikel bei mir am Schreibtisch sitze, das Lachen nicht vergesse. (lacht)"

Jens Triebel, 44, kurze, leicht gegelte Haare, kantiges Gesicht, gut sitzender Anzug, nimmt Platz am Konferenztisch, nippt an seinem Tee. In seiner Amtszeit wurde der Komplettabriss von Suhl-Nord endgültig beschlossen, außerdem stoppte Triebel die Mitfinanzierung der Thüringen Philharmonie Gotha-Suhl. Das Haus Philharmonie, ein riesiges Gebäude mitten in der Stadt, wurde zugemacht und zum Teil abgerissen.

Doch allen negativen Wegmarken zum Trotz: Triebel entspricht nicht dem Klischee eines Provinzbürgermeisters, der wegen der harten Einschnitte lethargisch geworden ist. Das liegt auch an der langen Geschichte, die ihn mit der Stadt verbindet, sagt er:

"Ich bin in der Tat seit über 400 Jahren über meine Familie hier in der Stadt verwurzelt, hab einen nachgewiesenen Stammbaum bis 1611 väterliche Linie. Insofern bin ich alt, aber ich bin nicht klein und pummelig. (lacht)"

Freud und Leid machen Suhl aus
Triebel lacht gerne und laut, das dokumentieren auch deutliche Lachfältchen in seinem Gesicht. Er kennt natürlich die Probleme seiner Stadt, hat aber auch das Potential von Suhl im Blick. Beides – Freud und Leid - macht Suhl aus, findet Triebel und zeigt aus dem Fenster.

"Die Ottilienkapelle, sehen Sie aus dem Fenster. Dort oben die Kapelle. Das ist der Balkon, wenn Sie mal rausschauen, dann sehen Sie links über Ihrer Schulter ist der Domberg. Und dort auf halber Höhe findet sich eine ganz kleine, wunderschöne Kapelle."

Einen versonnenen Moment lang blickt Triebel über den Marktplatz mit dem Waffenschmied-Denkmal, einem Wahrzeichen der Stadt, die sich selbst Waffenstadt nennt, weil dort seit dem Mittelalter Waffen gefertigt werden. Dann schnappt er sich die Autoschlüssel. Er will vor allem das sich wandelnde Suhl zeigen. Das, das nur selten erwähnt wird.

Jens Triebel drosselt selten das Tempo. Mit flottem Gang geht es wieder hinaus aus dem Rathaus, hinein ins Auto Richtung Ottilienkapelle. Die ist nur ein paar Fahrtminuten entfernt. Im Auto hält Triebel nochmal ein kurzes Plädoyer für Suhl.

"Ich glaube, dass Städte wie die unsrige ne gute Zukunft haben, weil sie ein familienwürdiges Leben relativ gut gestaltbar machen. Ich kann meine Kinder zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit dem Bus in die Stadt schicken, ohne dass ich Angst haben muss, dass sie nicht zurückkommen."

Auf dem Weg zur Kapelle liegt noch etwas Schnee; Jens Triebel stapft mit seinen schwarzen Lederschuhen zum Suhler Balkon, so wird der Aussichtspunkt genannt. Von hier aus lässt sich fast die ganze Stadt betrachten; nur Suhl-Nord hat sich hinter Bäumen versteckt.

"Eine gut gepflegte, eine farbenfrohe, reich begrünte Stadt"
"Natürlich ist das erdrückend, wenn man die Statistiken über die Einwohnerentwicklung für unsere Stadt, aber im Übrigen auch für ganz Thüringen, sieht. Dann fragt man sich besorgt: Wie soll das weiter gehen? Aber ich glaube, wenn man jetzt von hier oben, von der Ottilienkapelle, auf halber Höhe des Domberges, einfach mal nen ganz unvoreingenommenen Blick durch die Stadt schweifen lässt, dann sieht man eine sehr aufgeräumte, eine gut gepflegte, eine farbenfrohe, reich begrünte Stadt, ich denke durchaus ein Ort, in dem sich’s gut leben lässt."

Ein Ort, der neben der demographischen Entwicklung allerdings noch ein weiteres Problem hat: Schulden. Ende 2012 waren es ca. 60 Millionen Euro. Einen Haushalt stellt der Stadtrat schon seit längerem nicht mehr auf. Aber pleite, nein, pleite ist Suhl nicht, da hat mal wieder jemand zu negativ berichtet, meint der schelmisch grinsende Oberbürgermeister.

"Ich weiß nicht, wer so was sagt. (lacht) Das können nur Journalisten gesagt haben."

Auf die Nachfrage, wie denn die Stadt all ihre Angebote wie Kino, Schwimmbad, Kongresszentrum, Schießsportzentrum oder Tierpark aufrecht erhalten will, und vor allem wie sie sich den Stadtumbau auf Dauer leisten kann, darauf hat Triebel keine klare Antwort.

"Ich sag das auch ganz offen und ehrlich: Es gibt heute keinen Plan oder kein Finanzierungskonzept, wie das zu meistern ist. Aber ich glaube, eine Stadt muss sich irgendwann mal über ein paar grundsätzliche Fragen gemeinsam mit der Öffentlichkeit verständigen, um bei jeder künftigen Investitionsentscheidung, die ansteht, zunächst die Frage beantworten zu können: Ist das richtig, was wir hier tun? Und wenn ich weiß, dass ich ein Wohngebiet habe, in dem ich in den letzten 15 Jahren 10.000 Einwohner verloren habe, dann muss ich dort Fragen beantworten, ob es besser ist, zum Beispiel einen neuen Kindergarten hier in der Innenstadt zu bauen, oder ist es gut, dort, wo kaum noch jemand wohnt, nen neuen Kindergarten zu bauen."

Triebel ist versiert im Umgang mit Medien, er wählt seine Worte genau, wirkt sehr reflektiert. Reden kann er. Für’s Machen fehle ihm als parteiloser Politiker unter anderem der nötige Rückhalt im Stadtrat, um sich durchzusetzen, sagt hier mancher. Und es gibt ja nicht wenig zu tun in Suhl:

Genug zu tun
Der Komplettabriss von Suhl-Nord ist ins Stocken geraten, die Übernahme der insolvenzgefährdeten und hochverschuldeten Wohnungsbaugesellschaft Gewo hat ein großes Loch in den Haushalt gerissen, und von der Ottilienkapelle aus ist auch die Baulücke in der Innenstadt zu sehen: Vom Haus Philharmonie gibt es nur noch den Eingangsbereich mit den riesigen Säulen, dahinter ist eine ruhende Baustelle. Doch zumindest dieses Problem ist vom Tisch, sagt Triebel, und deutet in Richtung der Bauzäune.

Spätestens 2015 soll hier das Haus der Wirtschaft stehen, die neue Zentrale der Industrie- und Handelskammer Südthüringen, sagt Triebel und setzt die Aufzählung positiver Meldungen gleich fort: Die Stadt hat neue Gewerbegebiete gebaut. Es gibt dort ein CD-Werk, eine Firma für Badarmaturen, eine zur Fleischverarbeitung und eine für Automobiltechnologie. Außerdem lernen angehende Büchsenmacher das Handwerk der Jagdwaffen-Produktion in einer kleinen Berufsfachschule. Das Krankenhaus wurde modernisiert und ausgebaut, und ist einer der größten Arbeitgeber der Stadt. Die Arbeitslosenquote liegt zurzeit bei sieben Prozent. Noch etwas? Triebel lacht jetzt wieder.

Für seine Auseinandersetzungen mit dem Stadtrat wählt er den Vergleich mit seinem größten Hobby, dem Bergsteigen:

"Einen hohen Berg zu ersteigen, ist körperlich anstrengend, ist risikobehaftet, aber man kann jede Entscheidung selber treffen. Bei einer Stadt ist das nicht so. Weil man jede Entscheidung gemeinsam mit der Verwaltung treffen muss und vor allem mit dem Stadtrat."

Triebel ist seit 2006 im Amt, holte gleich im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit, auch bei seiner Wiederwahl 2012. Vor seiner Zeit als Oberbürgermeister hat er die Eiger-Nordwand genau wie den Mount McKinley erklommen; am Nanga Parbat ist er gescheitert, einer seiner Wanderkameraden starb dort. Triebel selbst konnte gerade noch gerettet werden. Danach hat er die Berge lange gemieden, inzwischen ist er wieder gelegentlich aktiv – aber die meiste Zeit bewegt er sich nun in den Untiefen der Politik.

"In der Führung einer Stadt kriegt man wenigstens keine Höhenkrankheit. (lacht ) Aber Kopfschmerzen trotzdem regelmäßig. (lacht)"

Triebel bleibt noch einmal stehen, den Blick auf das Stadtpanorama gerichtet. Dass die Stadt schrumpft, das ist eben der Gang der Dinge, sagt der Oberbürgermeister; aber wenn die Stadt kleiner wird und sich nur noch auf das Stadtzentrum und die zentrumsnahen Stadtteile konzentriert, mit all ihren Angeboten, da muss Suhl doch eine Zukunft haben, sagt er und wirft vom Domberg aus einen letzten Blick auf seine Stadt. Dann muss er los, zu den nächsten Terminen.

Aufschrei aus der Provinz
Zurück im Tal, im Ortsteil Heinrichs. Hier steht ein historisches Gebäude neben dem anderen. Gut gepflegtes Fachwerk wechselt sich mit Schieferhäusern ab.

In einem dieser Häuser wohnen und arbeiten Claudia und Hendrik Neukirchner. In gewisser Weise Seelenverwandte des Bürgermeisters. Die Beiden sind nach dem Studium zurück nach Suhl gezogen, dahin, wo Freunde und Familie sind. Sie haben hier den Verein "Provinzkultur" gegründet und veranstalten unter anderem jedes Jahr ein Kulturfestival, mit Konzerten, Vernissagen, Lesungen und Filmvorführungen in der gesamten Rennsteig-Region. Auch, um zu zeigen, dass Suhl und die Nachbarstädte alles andere als tot sind.
"Deswegen haben wir damals auch unsere Veranstaltung 'Provinzschrei' genannt. Wir leben hier in der Provinz, und das sollte man nicht immer so negativ sehen. Es gibt sehr, sehr schöne Kleinstädte. Und wenn die Entwicklung so ist, dass man dann eben sich stabilisiert auf 23.000 oder 25.000 Einwohner, dann muss man im Prinzip das auch als Chance nutzen, und dann eben dieses Kleinstädtische pflegen und sich nicht immer wieder darüber ärgern, dass es eben jetzt so ist, sondern einfach auch mal dieses, dieser Stolz muss mehr entwickelt werden unserer Bürger. Also, man kann stolz drauf sein, auch Suhler zu sein, weil einfach diese Region auch was Positives eben hat."

Claudia Neukirchner betreibt in Suhl ein Reisebüro, ihr Mann leitet den Provinzkultur e.V. hauptberuflich, in ihrem Büro planen sie gerade den nächsten Provinzschrei, auch wieder mit bundesweit bekannten Künstlern.

"Viele Künstler, die zu uns kommen, nehmen natürlich auch den Namen Suhl mit in die Welt hinaus oder durch Medienberichterstattung, durch die Künstler, die bei uns da waren, hat man einfach auch nen größeren Ruf nach draußen, also auch übern Berg hinaus. Und das ist eigentlich unser, also mein Anliegen, dass man Suhl damit positiv ins Gespräch bringt."

Die beiden Provinzschreier wirken so, als könnte sie so schnell nichts von ihren Plänen abbringen, auch keine negativen Statistiken.

Claudia Neukirchner: "Man muss mehr positive Nachrichten über die Stadt verbreiten als negative." Hendrik Neukirchner: "Wenn sie da sind." Claudia Neukirchner: "Wenn sie da sind." Hendrik Neukirchner: "Und die Nachrichten müssen wir natürlich auch selbst generieren, als Stadt. Und mein Ziel, oder mein Traum wäre, wenn wir bei 30.000 stehen bleiben. Ich glaube, das ist ne Größe, mit der wir hier noch gut leben könnten."

Die Neukirchners haben auch einen Tipp, wo im ruhigen Suhl abends noch was los ist:

Bundesland Franken
Im Gambrinus, einer Kneipe in der Innenstadt. Schummriges Licht, dunkles Holz, die meisten Tische sind besetzt. In der Ecke sitzen drei Männer in Karohemden, Stammgäste, um die 50. Sie kennen jede Menge Statistiken und Prognosen für ihre Stadt, sie kennen auch den Stadtentwicklungsplan, mit dem Abriss von Suhl-Nord. Und sie haben gehört von einem weiteren Vorschlag des Oberbürgermeisters. Dem nämlich, sich von Thüringen loszusagen, um dann in einem noch zu gründenden Bundesland Franken mehr Beachtung zu bekommen. Aber ob das die Suhler mit allen Konsequenzen mitmachen würden?

"Weißbier kann man mal trinken, schmeckt auch nicht schlecht, aber Weißwurst würd‘ ich zum Beispiel nie essen. Die schmeckt mir gar nicht. Franken, nee, das käm für mich glaub ich nicht in Frage."

Sein Tischnachbar sieht das ganz anders, er ist eher auf einer Linie mit dem Oberbürgermeister.

"Die Idee ist ja nicht schlecht, wie gesagt. Von Thüringen kommt nichts, wie gesagt, und war ja schon immer der Rennsteig die Grenze von Nord nach Süd."

Er denkt kurz nach und bringt ein weiteres Argument für Franken:

"Wenn wir nach Österreich oder Italien in den Skiurlaub fahren, wird viel gedacht, wir kämen aus dem fränkischen Raum, ja, von der Aussprache her."

Suhl gehört erst seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu Thüringen, viele der historischen Gebäude könnten auch in Franken stehen. Und auch hier rollt man das R gerne mal etwas kräftiger.

Ob es aber aufwärts geht für Suhl, ob die Stadt mehr Geld bekommt, wenn sie zu einem neuen Freistaat Franken oder zumindest zum jetzt schon bestehenden Freistaat Bayern gehören würde?
Auch der Kellner, Ende 20, tätowierte Arme, kräftige Statur, mischt sich ein in die Diskussion um Franken, und nimmt erstmal einen Schluck von seinem Weißbier. Das mag er nämlich. Dann hält er aber doch ein Plädoyer für Thüringen.

"Ich sag Nein zu Franken, zu Bayern. Nicht, weil’s mir dort nicht gefällt, um Gottes Willen, das will ich jetzt damit nicht sagen. Aber ich persönlich bin Thüringer, und ich möchte auch Thüringer bleiben. Und ich möchte auch nicht, dass Suhl wieder, wie schon einmal, vor langer, langer Zeit, zu Bayern oder Franken gehört."

Gelebte Solidarität?
In Suhl ist man sich also nicht einig darüber, ob die Sache mit Franken eine gute Idee ist. Und was sagen die Franken, genauer die Oberfranken dazu? Ein kurzer Besuch in Coburg, oder wie die Leute dort sagen, Coburch:

Mittags auf dem Marktplatz steht ein Wurststand. Zwei ältere Frauen in hellgelben Schürzen brutzeln Würste, Coburger Würste. Vielleicht könnte man hier ja mal Thüringer verkaufen, als Zeichen gelebter Solidarität?

"Die Thüringer werden auf Holzkohle oder Gas oder was, und unsere werden nur auf Kiefernzapfen." - "Aber ist da ist schon ne gewisse Ähnlichkeit oder so?" - "Ja, unsere sind ja 80 Prozent Schwein und 20 Prozent Rind. Und die da drüben sind… Ach, der Herr meinte jetzt ganz was Anderes. Wie ich auch gelesen habe, die möchten gerne rüber, nach Bayern gehören. Aber da ham wir hier keine, können wir gar nicht mitreden."

Einer, der da mitreden kann, ist Norbert Tessmer. Er ist zweiter Bürgermeister von Coburg, ein gemütlicher Typ, in blau-weiß-gestreiftem Hemd. Zurückgelehnt sitzt er in seinem Dienstzimmer, die Arme locker verschränkt vor seinem Bauch. Dass Suhl und seine Stadt einmal vereint in einem Bundesland sein könnten, davon hält er nicht so viel.

"Ich stelle mir das nicht so einfach vor, weil, wenn’s umgekehrt wäre, wenn’s heißen würde, also, ab morgen seid ihr Thüringer, dann hätte ich als Oberfranke, hätte ich schon ein leichtes Problem. Weil das ist meine, das ist der Raum, mit dem ich mich identifiziere, der hat eine gewisse Kultur, gewisse Eigenheiten und da lebe ich. Und wenn das ab morgen anders wäre, da hätte ich, ja persönlich, persönlich, hätte ich da ein Problem damit."

Und Tessmer stimmt auch nicht dem Argument zu, dass die Suhler ja eigentlich Fränkisch reden.

"Es ist schon teilweise n thüringischer oder sächsischer Ton hört man auch raus. Also ich denke, ich würd’s erkennen, ja, doch. (lacht) Ohne jemandem zu nahe treten zu wollen. (lacht) Nicht, dass das irgendwie zu diplomatischen Verwicklungen führt. Das hätt‘ mir noch gefehlt. (lacht sehr laut)"

Vielleicht müssen sich die Suhler also doch etwas anderes überlegen; das ist wohl das Fazit des kurzen Ausflugs nach Coburg, und das gibt einem ganz am Schluss auch ein kräftiger Franke mit rotem Gesicht noch einmal mit auf den Weg, so laut, dass es durch die ganze Fußgängerzone schallt.

"Franken und Thüringen, des is wieder was anderes. Des is genau wie wir Franken, genau mit Bayern, da ham wir ein Problem. Und ich sag mal ganz einfach so: Wir Franken sind für uns. Und die Thüringer wahrscheinlich genauso."
Mehr zum Thema