"Eine riesengroße Chance"

Serhij Zhadan im Gespräch mit Susanne Führer · 11.05.2012
Er sei dafür, dass die ukrainische Regierung boykottiert wird. Wenn aber die deutschen Fans bei der Fußball-EM ausbleiben würden, sei das nicht konstruktiv, erklärt der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan. Er hofft noch, dass die EM einen Durchbruch in der ukrainischen Politik startet.
Susanne Führer: Der junge Schriftsteller Serhij Zhadan gehört zu den populärsten Autoren der Ukraine. Im Westen wurde er mit seinem Roman "Depeche Mode" bekannt. Zhadan ist großer Fußballfan, er ist auch Herausgeber des Bandes "Totalniy Futbol": Eine polnisch-ukrainische Fußballreise", der gerade erschienen ist, und er spielt selbst Fußball.

Heute treten in Berlin die Autorenmannschaften der Ukraine, Polens und Deutschlands gegeneinander an. Ich habe Serhij Zhadan gefragt, ob er sich eigentlich auf die Europameisterschaft in seinem Land noch freut.

Serhij Zhadan: Ich habe überhaupt keine Zweifel und ich freue mich sehr. Ich freue mich genauso wie Millionen von ukrainischen Fußballfans wie auch Leute in Europa, die Fußball mögen. Für uns alle, Leute, die Fußball mögen, ist es ein Ereignis, auf das wir vier Jahre lang gewartet haben. Außerdem wird die ukrainische Nationalmannschaft zum ersten Mal an so einem Sportereignis teilnehmen. Das ist ganz toll. Es ist möglich, weil wir zuhause spielen, und damit verbinden wir auch ganz große Hoffnungen.

Führer: Nun ist ja ein Schatten auf die Europameisterschaft geworfen worden wegen der politischen Diskussion rund um Julija Timoschenko, Sie wissen, dass die EU-Kommission geschlossen nicht die Spiele in der Ukraine besuchen will, die deutschen Spitzenpolitiker halten sich diese Option zumindest noch offen. Halten Sie eigentlich so einen Boykott von Politikern für hilfreich, stärkt es die demokratischen Kräfte in der Ukraine, oder ärgert er sie mehr?

Zhadan: Ehrlich gesagt ist das nicht der erste Skandal, der mit der Euro verbunden ist, und meiner Meinung nach hätten die europäischen Politiker schon viel früher auf bestimmte Dinge reagieren müssen. Ich muss schon sagen, dass ... Von Anfang an gab es irgendwelche Probleme mit dieser Euro 2012. Es gab undurchsichtige Geschäfte, also es gab sehr viel Korruption, es gab auch politische Probleme, schon früher. Deshalb kann ich schon sagen, dass es wahrscheinlich richtig ist, dass es diesen Schatten, diesen politischen Schatten gibt bei diesem Ereignis, das eigentlich eine rein sportliche Art sein sollte. Ich bin aber dafür, dass die ukrainische Regierung, der Präsident boykottiert wird.

Das finde ich ganz gut, und ich kann sagen, dass es in der Ukraine ganz viele Menschen gibt, die schon seit einiger Zeit ihren Präsidenten ganz persönlich boykottieren. Ich bin aber kategorisch dagegen, dass die Ukraine als Land boykottiert wird, dass die Menschen in diesem Land boykottiert werden und eben auch dieses Sportereignis, weil ich finde, dass ... bei so einem Boykott gegen den Präsidenten boykottiert man auch gleichzeitig die Menschen, die in diesem Land leben, und die Ukraine wird als Land isoliert. Das finde ich nicht gut.

Ich bin auch überhaupt nicht davon überzeugt, dass so ein Boykott irgendwelche demokratischen Entwicklungen oder Prozesse in der Ukraine fördern könnte, einfach aus dem Grunde, dass solche Dinge nicht von außen eingewirkt werden könnten, sondern das sind Sachen, die im Lande selber passieren müssten.

Führer: Sie schreiben ja auch in Ihrem Buch "Totalniy Futbol" an einer Stelle, gewandt an die deutschen Leser: "Genießen Sie das Spiel, und alles andere sind unsere Probleme." Also Sie wollen den Fußball sozusagen reinhalten von allen politischen Einflussnahmen. Trotzdem weiß man doch, wenn jetzt, mal angenommen, die deutsche Bundeskanzlerin Merkel neben Präsident Janukowitsch auf der Tribüne sitzt, dass das auch ein politisches Signal ist. Man kann es doch gar nicht mehr trennen.

Zhadan: Ich würde das aber doch trennen wollen, und was Janukowitsch betrifft, ich würde sagen: Ich bin mir gar nicht sicher, dass er eigentlich zu den Fußballspielen erscheint und auf der Tribüne sitzt, weil er hat jetzt Angst vor den Leuten, und es gab in der letzten Zeit schon einige Fälle, wo einfach sehr stark gepfiffen und gerufen wurde, als er im Stadion war.

Der traut sich einfach nicht mehr ins Stadion. Wenn Frau Merkel neben dem Janukowitsch auf der Tribüne sitzt, das ist natürlich ein politisches Signal. Auf der anderen Seite: Wenn die deutschen Fans ausbleiben, wenn sie nicht kommen - das ist kein politisches Signal, das ist für mich so eine Art Kalter Krieg. Und das finde ich nicht konstruktiv und das würde ich sehr gerne vermeiden.

Führer: Das heißt, Sie hoffen noch auf ein richtiges Fußballfest, also dass die Fans aus ganz Europa kommen, gemeinsam mit den Ukrainern die Spiele sehen, gemeinsam mit ihnen feiern?

Zhadan: Ich bin eigentlich für einen gesunden Menschenverstand, und sagen wir mal, in Kharkiv werden die Holländer drei Spiele haben, ein Spiel davon ist eben Holland gegen Deutschland, und ich kann eigentlich nicht richtig verstehen, was die deutschen oder die holländischen Fußballfans mit den innerukrainischen politischen Problemen zu tun haben. Ich glaube, diese Probleme soll man den Politikern überlassen, die sollen sich damit beschäftigen, und die Fußballfans sollen kommen, um Fußball zu genießen.

Führer: Die Entscheidung, die Fußball-EM an Polen und an die Ukraine zu geben, ist ja vor fünf Jahren schon gefällt worden, also im Jahr 2007, die Ukraine hatte dann fünf Jahre Zeit, Polen auch, sich vorzubereiten. Sie haben vorhin ein bisschen angedeutet, dass diese Zeit nicht unbedingt gut genutzt worden ist: Es gab viel Streit in der Ukraine um die vier Spielorte, weil da sehr viele Millionen dranhängen; es gibt offenkundig große Korruption; die Infrastruktur hat sich auch nicht so verbessert, wie man es gehofft hatte; und die Europameisterschaft wird wohl wesentlich teurer für die Ukraine als man vorher gedacht hat. Ziehen Sie trotzdem jetzt schon eine positive Bilanz?

Zhadan: Es ist schwer zu sagen, ich kann das nicht sagen. Natürlich, Sie haben schon recht und es gibt all diese Probleme, die Sie aufgezählt haben. Für mich ist Fußball eine Art Spiegel oder Widerspiegelung der Gesellschaft schlechthin: Alle Probleme, die man in der Wirtschaft hat, in der Politik, im Zahlenbereich, die spiegeln sich eigentlich im Fußball wider, das findet man dort wieder.

Wenn ich vom heutigen Standpunkt aus diese Geschichte betrachte und falls das zum Beispiel heute entschieden würde, dass diese EM in der Ukraine stattfinden sollte - ich denke, die meisten Ukrainer würden da gehen. Damals, vor fünf Jahren, waren wir einfach alle wahnsinnig euphorisch, wir waren begeistert, also wir fanden, das ist eine Super-Möglichkeit, da einen Durchbruch zu starten in der Außenpolitik, in unserer Innenpolitik. Wir haben das einfach als eine riesengroße Chance und Möglichkeit betrachtet.

Führer: Aber?

Zhadan: Aber wir haben diese Chance nicht genutzt, wir haben diese Möglichkeiten überhaupt nicht genutzt. Formal ist die Ukraine sehr gut vorbereitet auf die EM, das heißt, es gibt diese Infrastruktur, es gibt neue Flughäfen, es gibt neue Straßen, neue Hotels, und es wurde sehr viel gebaut und das ist alles vorbereitet. Aber wie ist denn eigentlich der Preis und wer profitiert eigentlich davon? Wird außer der Regierung und der Macht überhaupt noch jemand davon profitieren? Wird die Gesellschaft eigentlich davon profitieren können? Das ist eine sehr große Frage.

Führer: Der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan im Deutschlandradio Kultur. Herr Zhadan, Sie haben gerade den Band herausgegeben "Totalniy Futball: Eine polnisch-ukrainische Fußballreise", gerade in der Edition Suhrkamp erschienen. Darin werden alle acht Spielorte vorgestellt, also vier in Polen, vier in der Ukraine, und Sie schreiben auch darin, und zwar über Donezk, also eine Millionenstadt im Osten des Landes, eine Kohlestadt.

Die hat jetzt ein todschickes, ganz modernes Stadion bekommen, ein sogenanntes europäisches Stadion, bezahlt vom Oligarchen Rinat Achmetow, der ist zugleich Präsident des Vereins Schachtar Donezk, und das Stadion ist eine Attraktion, schreiben Sie, fast ein bisschen ein Wellnesscenter, und zugleich auch ein Fremdkörper in der Stadt. Ich habe mich gefragt, ob das fast schon allegorisch gemeint ist.

Zhadan: Ja, ich schreibe, dass ... Eine Besonderheit der modernen ukrainischen Städte sind eben solche Zentren. Es könnten große Handelszentren sein, es könnte ebenso ein Stadion sein, weil es gibt keine richtige humanitäre Politik, es gibt kein kulturelles Angebot und die Menschen, die Gesellschaft ist einfach gezwungen, so etwas zu greifen, und dann greift man eben zu solchen Shoppingzentren und verbringt dort seine Zeit.

Das ist wirklich sehr interessant und spannend zu beobachten, weil es gibt ganze Familien, nicht nur aus Donezk, aber auch aus kleinen Orten um Donezk herum, die am Sonntag oder am Wochenende ins Stadion kommen. Wir haben kein Disneyland in der Ukraine, wir haben nicht so viele Tiergärten, wir haben auch nicht so viele botanische Gärten - da geht man einfach ins Stadion.

Das ist so ein Ersatz der Kultur für Arme, also es gibt kein Kino, es gibt kein Theater, dann bleibt eigentlich nur Fußball im Stadion.

Führer: Sprechen wir mal zum Ende wirklich über Fußball: Die Ukraine startet in Gruppe D mit Frankreich, England und Schweden zusammen, gilt als Außenseiter. Was glauben Sie - wie weit wird sie kommen?

Zhadan: Ich glaube, wir werden die Gruppe auf jeden Fall verlassen können. Wir haben leider große Probleme mit den Kadern und unser Haupttrainer hat bestimmte Probleme, aber ich finde das Wichtigste, wir spielen zuhause, und die ukrainischen Fans, die unterstützen ihre Mannschaft schon sehr stark. Ich hoffe einfach, dass es wirklich ein auch interessantes Ereignis wird, trotz dieser politischen Probleme, und dass wir auch interessante Spiele erleben können und dass dieser Monat uns ganz neue Seiten öffnet und einfach eine entspannende Zeit wird.

Führer: Der ukrainische Autor Serhij Zhadan, das von ihm herausgegebene Buch "Totalniy Futboll: Eine polnisch-ukrainische Fußballreise" ist gerade bei Suhrkamp erschienen. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Zhadan!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Anhänger der inhaftierten Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko protestieren in der ukrainischen Hauptstadt Kiew
Anhänger der inhaftierten Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko protestieren in der ukrainischen Hauptstadt Kiew© picture alliance / dpa / Sergey Dolzhenko
Der neue Präsident der Ukraine, Viktor Janukowitsch, hat in Kiew seinen Amtseid abgelegt.
Der Präsident der Ukraine, Viktor Janukowitsch© AP
Mehr zum Thema