Eine Reise zu sich selbst

Von Martina Seeber · 03.05.2012
Für Claude Vivier war Bali die "Insel der Götter", oder "Pulau Dewata", wie sie die Einheimischen nennen. Die drei Monate, die der Komponist im Herbst 1976 dort verbrachte, gehörten zu den glücklichsten seines Lebens.
"Musizierend wie ein Kind" spielte er im Gamelan-Orchester, nahm an Zeremonien teil und lernte "einfache Dinge über das Leben und die Liebe". Es war keineswegs nur die Exotik, die Vivier auf dieser Insel faszinierte. Die Ferne brachte ihn näher zu sich selbst. Nach seiner Rückkehr gestand er, die Reise sei letztlich nichts anderes gewesen, als eine Reise zu sich selbst. Bali habe ihn verwandelt. Alles, was er später komponiert habe, verdanke er seiner Zeit auf der Insel der Götter. Eines der ersten Werke des geläuterten Künstlers ist "Pulau Dewata", eine Hommage an das balinesische Volk.

Die Partitur besteht aus einer Folge von neun Melodien. Die erste besteht lediglich aus einem rhythmisierten Einzelton, die folgenden sukzessive aus zwei, drei, vier, bis hin zu neun Tönen: "Diese Modi können manchmal an balinesische Musik erinnern, aber ich wollte ein Stück schreiben, dass den Geist Balis vermittelt: den Tanz, den Rhythmus und vor allem eine Explosion des einfachen und unverkennbaren Lebens." Dass Vivier das einfache Leben nicht nur durch die rosarote Brille des Touristen sah, verrät seine Erinnerung an die Stimmung auf der Insel, "eine unfassbar traurige Poesie, eine Traurigkeit, die entsteht, wenn man das Leben liebt."

In "Pulau Dewata" sind die Strukturen in den sich sukzessive vergrößernden melodischen Einheiten anfangs noch klar zu erkennen. Erst im Verlauf löst sich die Einstimmigkeit, aber auch die rhythmische Synchronizität zunehmend auf. Die Textur wird komplexer, nur der Puls in Achtelnoten grundiert die Melodienfolge wie ein Uhrwerk. Auch darin erinnert das Arrangement an die musikalischen Erlebnisse auf der Insel, wo ein Instrumentalist kontinuierlich, und damit unter Umständen die ganze Nacht hindurch, den Puls schlägt. Nach seiner Rückkehr aus Bali, erinnert sich Vivier, schrieb er Musik nur noch aus Achtel- und Sechzehntelnoten, die den Puls der Zeit markierten – nur dass sein Uhrwerk, anders als auf Bali, bisweilen das Tempo ändert.

Ob auch die Farben und Klangqualitäten an die Musik der Gamelan-Orchester erinnern, lässt Vivier offen. Die Besetzung für Pulau Dewata kann frei gewählt werden, auch die Anzahl der Stimmen ist nicht festgelegt. Daher muss diese Musik nicht unbedingt folkloristisch klingen. Die Interpreten entscheiden, ob sie mit Gongs und Trommeln die Nähe zur balinesischen Musikkultur suchen, oder – wie im Fall des Arrangements von Laboratorium, mit Melodika, Oboe und Blechbläsern kontrastierende, vielleicht sogar irritierende Farben und Texturen einbringen.

Ferne Welten - Das Ensemble Laboratorium und der Dirigent Manuel Nawri
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