Eine radikal andere Welt

18.08.2011
Als US-Außenminister wirkte Henry Kissinger vor vier Jahrzehnten entscheidend an der Öffnung Chinas mit. Er kennt das Land wie kaum ein Zweiter im Westen, seine Geschichte und seine Politik von Mao bis heute. Jetzt legt er die Summe seiner Erfahrungen mit dem Reich der Mitte vor.
Henry Kissinger, das ist der umstrittene Politstar, der immer schon beides wollte: Weltgeschichte machen und Weltgeschichte (auf-)schreiben. In dem 600-Seiten-Werk "China" tritt seine Doppelbegabung eminent hervor. Kissinger war 1971 im Auftrag von US-Präsident Nixon erstmals nach Beijing gereist, um in Gesprächen mit Premierminister Zhou Enlai das Schweigen zwischen China und den USA zu beenden. Er verhandelte später mit allen führenden Kommunisten des Landes, darunter Mao Zedong und Wirtschaftsreformer Deng Xiaoping. Und nun, während China zur gefürchteten wirtschaftlichen Supermacht aufsteigt, versucht sich Kissinger am großen Wurf:

Er überblickt Chinas Geschichte als wohlhabendes, lange Zeit konkurrenzloses Land, das den technologisch überlegenen Europäern im 19. Jahrhunderts wenig entgegenzusetzen hatte. Er untersucht die Rolle der 1949 gegründeten Volksrepublik im 20. Jahrhundert. Er beleuchtet seine eigene Bedeutung in der Diplomatie zwischen China und den USA und skizziert das aktuelle "internationale System" mit den Schwerkraftzentren Washington und Beijing. Zuletzt spekuliert Kissinger über eine "Pazifische Gemeinschaft" ohne europäische Beteiligung.

Die Lektüre ist so eindrucksvoll wie abschreckend. Kissingers Porträt der chinesischen Zivilisation und ihres Geltungsanspruchs mag überpointiert sein, aber es vermittelt Einsichten in eine radikal andere, nicht-westliche Vorstellungswelt. "China" beleuchtet entscheidende Facetten des Kalten Krieges, darunter den Vietnamkrieg, den China 1979 mit großen Verlusten geführt hat - während das Vietnam-Debakel der USA unter den Tisch fällt. Das Werk dürfte alle fesseln, die sich für den mal raffinierten, mal rabiaten Umgang mächtiger Männer interessieren (als einzige Frau mehrfach erwähnt wird "Madame Mao", Jiang Quing). Gleichzeitig aber ist das Buch ein ärgerlicher Kotau vor jenen "welthistorischen Individuen", die nach Hegel über moralische Kategorien erhaben sind.

Ein Pol Pot firmiert immerhin sachlich korrekt als "Mörder". Mao aber, der bei Unterredungen laut Kissinger stets als "Philosophenkönig" auftrat und gern in Orakeln sprach, bleibt genauso wie Stalin von Kritik verschont. Spürbar fasziniert gibt Kissinger Maos Gedanken an einen Atomkrieg wieder, bei dem China "mehr als 300 Millionen Menschen verlieren" könnte: "Na und? Krieg ist Krieg. Die Jahre vergehen, und wir machen uns daran, mehr Babys zu zeugen als jemals zuvor." Vollends hagiographisch beschreibt Kissinger Maos ergebenen Weggefährten Zhou: "Mao dominierte jede Versammlung, Zhou erfüllte sie mit Licht. Maos Leidenschaft suchte Gegner zu überwältigen, Zhous Intellekt war darauf aus, zu überzeugen oder auszumanövrieren."

Man muss dem Publizisten Christopher Hitchens, der in Kissinger wegen dessen Verstrickungen in viele blutige Operationen der 70er-Jahre den "Staatsmann als Killer" sieht, nicht beipflichten. Gleichwohl zeigt sich der Friedensnobelpreisträger auch in "China" als Realpolitiker härtester Sorte. Er vermittelt den Eindruck, Geschichte sei das, was ausgewählte Alphatiere ohne Rücksicht auf Menschenleben auszuhecken belieben. Krieg und Frieden erscheinen als wohlfeile Aggregatszustände des Politischen, Völker als Verfügungsmassen. Alternative Konzepte fallen Kissinger, der Menschenrechtsbelange bisweilen als Behinderung der Politik darstellt, nicht ein. Nur wer diesen Zumutungen standhält, wird "China" als kundige Analyse der neuen Weltkonstellation schätzen.

Besprochen von Arno Orzessek

Henry Kissinger: China
C. Bertelsmann Verlag, München 2011
606 Seiten, 26,00 Euro

Links bei dradio.de
Tischtennis als Auslöser für Annäherung
Helmut Schmidt: "Nach meiner Meinung hat es niemals eine Weltordnung gegeben"
Mehr zum Thema