Eine nie vergessene Liebe

Von Bernd Sobolla · 21.11.2011
Ein Konzentrationslager 1944 in Polen: Kein guter Ort, um sich zu verlieben. Im deutschen Film "Die verlorene Zeit" tun Tomasz und Hannah es trotzdem, verlieren sich aber aus den Augen. 30 Jahre später sieht Hannah ihren tot geglaubten Tomasz im Fernsehen und ist überwältigt.
New York 1976: Die jüdische Amerikanerin Hannah sieht zufällig ein TV-Interview mit einem Mann, der von seiner großen Liebe erzählt, die damit begann, dass er sein Essen mit ihr teilte und ihr später das Leben rettete, indem er mit ihr aus dem Konzentrationslager floh. Es könnte Tomasz sein, der Mann, von dem Hannah annahm, dass er gegen Kriegsende starb. Emotional überwältigt kann sie weder ihrer Tochter noch ihrem Mann davon erzählen. Stattdessen versucht sie über Hilfsorganisationen Kontakt mit Tomasz aufzunehmen. Parallel dazu tauchen in ihr Erinnerungen von früher auf:

"Du bist krank? … Kann organisieren die Medizin. Nicht dafür. Kann ich doch. … Hannah!... Hannah! … Ich habe nachgedacht. Du arbeitest wieder in der Oper. Wir brauchen eine Wohnung in die Stadt. Nicht! Wie sagt man: Halt den Mund auf Polnisch? Cocham mucze."

Die Jüdin Hannah und der polnische politische Gefangene Tomasz sind 1944 in Polen ein Liebespaar. Aber weder die Zeit noch der Ort geben viel Hoffnung für eine gemeinsame Zukunft. Denn die beiden sind in einem Konzentrationslager. Die Regisseurin Anna Justice hat es bewusst vermieden, einen Holocaust-Film zu drehen. Vielmehr ist das Vernichtungslager der Ausgangspunkt, um eine außergewöhnliche Liebesgeschichte zu erzählen:

"Ich fand es auch sehr schön, über diese Liebesgeschichte diese Überlebensgeschichte zu erzählen. Für mich ist das gar nicht zu trennen, weil es eben das Schicksal dieser beiden Figuren ist. Und für mich ging es auch immer darum, sich mit seinem Schicksal auszusöhnen. Und dass die Liebe ihnen Kraft gegeben hat, das zu überleben, auch den Mut zu haben, das zu tun, was sie getan haben."

Den Tod täglich vor Augen, besorgt sich Tomasz in der Schneiderei des Lagers eine SS-Uniform, zieht sie an und kommandiert Hannah zum Lagerausgang:

"Heil Hitler, Herr Unterscharführer! Heil Hitler! … Nach Dahmicze? … Putzkolonne, was? Verdammte Hitze. Mit Verlaub, Herr Unterscharführer, aber die gehört doch eher ins Puffkommando. … Die würde ich gern mal… Zuerst ich. Selbstverständlich, Herr Unterscharführer!"

Für die 23-jährige Alice Dwyer, die die junge Hannah spielt, ist es eine der interessantesten Rollen in ihrer Karriere:
"Es gibt viele Liebesgeschichten, ich finde diese aber sehr besonders. Der historische Aspekt ist besonders, aber auch dass viele Punkte dieser Geschichte wahr sind, so passiert sind, ist unvorstellbar und macht sie noch schöner."

Obgleich im ursprünglichen Drehbuch Hannah nur als leidende Frau beschrieben war, konnte Alice Dwyer die Regisseurin beim Casting davon überzeugen, die Figur der Hannah vitaler zu zeigen:
"Im Drehbuch gab es sehr viele Szenen, wo sie weint und nicht mehr weiter kann. Und wir dachten uns: "Wenn jemand sowas übersteht, wenn jemand jahrelang im Konzentrationslager war, da weinst du nicht mehr. Also nicht mehr wegen lapidaren Dingen. Wenn du es geschafft hast, über Jahre das zu überleben, dann hast du eine Kraft"."

Zurückhaltende Charaktere, die geheimnisvoll wirken und zugleich eine innere Kraft in sich tragen, spielt Alice Dwyer öfter. In "Die verlorene Zeit" beobachtet Hannah ihr Umfeld genau, ringt ums Überleben und verleiht selbst flüchtigen Begegnungen mit Tomasz durch Blicke oder kleine Gesten Schönheit und Zauber.

Nach der Flucht kommen die beiden zunächst bei Tomasz´ Familie unter. Aber seine Mutter, eine konservative Katholikin, grandios von Susanne Lothar gespielt, verbietet ihrem Sohn, eine Jüdin zu heiraten. Die Begegnungen zwischen Hannah und ihrer vermeintlichen Schwiegermutter gehören zu den Höhepunkten des Films: Ist es die Not der Zeit oder politische Überzeugung, dass Tomasz´ Mutter Hannah ablehnt? Oder ist es schlicht Antisemitismus? Auf jeden Fall muss sich Hannah bei Tomasz´ Schwägerin verstecken, während ihr Geliebter nach Warschau reist, um dort im Untergrund zu kämpfen. Doch er kehrt nicht mehr zurück, und schließlich muss auch Hannah fliehen:

"Liebster, wo immer ich auch sein werde, du bist in meinem Herzen und ich werde auf dich warten."

"Die verlorene Zeit" ist eine schöne – fast verdrängte - Liebesgeschichte: erzählt aus Hannahs Perspektive aus dem New York der 70er-Jahre:

"I thought you are finished with the past done. But you are never finished."

Berührend und zugleich mit reflektierender Distanz inszeniert, mit wenig Dialogen und viel Gespür für Spannung und Sehnsucht, Hoffnung und Angst, die sich vor allem in den stillen Szenen entwickeln. Eine eindrucksvolle Geschichte, ohne falsche Sentimentalität, die sich nach ausgiebigen Recherchen in ähnlicher Form mehr als einmal ereignet hat.
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