Eine Mauer durch die Mitte der Gesellschaft

Moderation: Liane von Billerbeck · 13.06.2013
Er sei Ungar - und er schäme sich, sagte Regisseur David Marton gestern im Berliner Maxim Gorki Theater. Grund sei die Lage der Künstler, die unter Ungarns rechtem Regierungschef Viktor Orbán immer schwieriger werde: "Das Unabhängige, das Freie existiert als Idee nicht mehr."
Liane von Billerbeck: In Ungarn wird das öffentliche, das kulturelle Leben komplett dominiert von der Partei des Viktor Orbán. Und das ist noch freundlich ausgedrückt. Wer nicht zu der großmachttrunkenen, von antisemitischen Tönen durchzogenen Ausrichtung der Politik passt, der hat ein Problem. Er oder sie kann nicht mehr frei arbeiten. Gestern also hat der Musiktheaterregisseur David Marton im Berliner Maxim Gorki Theater einen Text gelesen, in dem er beschreibt, wie es heute in Ungarn aussieht. Marton hat in Berlin Klavier studiert, dann noch Dirigieren und Musiktheaterregie, hat in Wien, Hannover, Hamburg, Dresden und eben in Berlin inszeniert. Und ich habe mit ihm kurz vor der Sendung gesprochen und zuerst gefragt, wie er, nachdem er jetzt ein Jahr in Ungarn war, in Budapest gelebt hat, die Lage dort gesehen hat?

David Marton: Ich lebe seit fast 17 Jahren in Berlin und pendle zwar die ganze Zeit zwischen Ungarn und Berlin, aber ich bin eigentlich inzwischen eher in Berlin zu Hause. Und jetzt, aus verschiedenen Gründen, habe ich ein Jahr dort verbracht und ich habe noch nicht alles verstanden. Ich glaube, es kann auch keiner das richtig verstehen, das ist eine sehr, sehr verworrene Situation.

Es gibt den normalen Montag und den normalen Mittwoch, es ist nicht so, dass man ständig in einer Lage sich befindet. Es ist eher, glaube ich, die Tatsache, was einen bedrückt, und das betrifft meine Freunde oder nicht nur Freunde, sondern Autofahrer, die hinter mir herfahren und mich in jeder Situation und jeden anderen nur anschreien und beschimpfen: dass die Menschen sich in jeder Lebenssituation konfrontiert fühlen mit dem politischen Kampf, der geführt wird.

Es wird ein politischer und ein kulturpolitischer Kampf geführt, schon seit Langem, was in den letzten Jahren noch heftiger geworden ist. Das ist aber nicht nur ein politischer Kampf zwischen Politikern oder in führenden Positionen, das ist ein Kampf und eine Verfeindung, die wirklich auch inzwischen in der Gesellschaft stattfindet, in fast jeder alltäglichen Situation. Und das spürt man an den Menschen, an den Blicken sieht man das. Das ist anders geworden als zum Beispiel in den 90ern.

von Billerbeck: Nun herrscht die Partei des Viktor Orbán in Ungarn in einem Land, das gerade für Deutschland ja nicht unwichtig war. Es hat eine Rolle gespielt beim Ende der Mauer, viele DDR-Bürger flohen im Sommer 89 über Ungarn in den Westen. Und Ungarn galt auch immer davor als die lustigste Baracke im Block, so sagte man. Wie ist das in Ungarn jetzt? Kann man sagen, da gibt es jetzt eine Spaltung, da gibt es jetzt eine Mauer?

Marton: Absolut. Es ist auch im Prinzip der Grundgedanke auch dieses Textes, würde ich sagen, für das Gorki Theater gewesen. Es ist im Prinzip eine Mauer, die in dem Augenblick angefangen wurde zu bauen, als die Mauer in Berlin gefallen ist.

Ich erinnere mich noch, als Kind, ich war da 14, als die Wende stattfand. Und einerseits gab es eine Aufruhrstimmung, andererseits hat man schon damals gemerkt, man beäugt einander: Gehört man zu dieser Gruppe oder zu jener Gruppe? Und diese Gruppe hießen diejenigen, für die die Behauptung, man ist ein Ungar – ohne zu definieren, was genau das heißt –, ist der Mittelpunkt der politischen Auffassung, und die andere Gruppe, die das nicht in den Mittelpunkt stellt.

Und das hat man schon als Kind auch gemerkt, dass das eine Rolle spielt, und darauf baute die Politik auch schon damals auf. Und diese Spaltung oder verschiedene Auffassung des Landes, kann man sagen, ist seitdem nur tiefer und tiefer geworden. Und das kann man tatsächlich als Mauer beschreiben. Menschen reden und können auch nicht miteinander reden, die in diese verschiedenen Gruppierungen gehören.

von Billerbeck: Das spricht ja für Nationalismus auf der einen Seite und für Kosmopolitismus auf der anderen Seite. Ist da die Teilung in Ungarn?

Marton: Ja, die offizielle Teilung. Aber es ist verworrener. Es ist auch so, dass jegliche Politik seit der Wende versäumt hat, bestimmte Begriffe, die dann natürlich auch mit der Geschichte und Klärung der Geschichte zu tun hat, richtigzustellen. Im Gegenteil, Begriffe werden komplett verschoben: Was heißt eigentlich links, was heißt liberal, was ist rechtskonservativ, was ist rechtspopulistisch? Diese Begriffe sind verschoben, werden anders benutzt.

Liberal ist inzwischen ganz klar links für jemanden, der den Reden von Orbán zum Beispiel zuhört, das ist ein Schimpfwort geworden. Das vielleicht Furchtbarste, was in diesem gesellschaftlichen Klima stattfindet, ist, dass das Unabhängige, das Freie als Idee nicht existiert. Das Schlimme ist, dass diejenigen, die sich nicht einreihen wollen in ein politisches Glaubensbekenntnis, sondern frei denken würden auch, oder möchten oder könnten, werden nicht akzeptiert. Man wird gleich gestempelt, dass man dahin oder dahin gehört.

Und insofern ist, was Sie gefragt haben, ist es verschwunden, das lustigste Land des Ostens ist nicht mehr das lustigste, im Gegenteil. Der Humor und vor allem die Selbstironie ist komplett verlorengegangen. Also, ich würde es so beschreiben: Jemand zu Hause ist sofort in den Augen eines anderen rechts oder links. Oder es gibt die Frage: Ist er links oder rechts? Und erst, wenn diese Frage geklärt ist oder gefüllt ist, kommen Fragen, ob man eigentlich ein Mann ist oder Frau oder alt oder jung oder sympathisch oder nicht sympathisch oder freundlich oder nicht freundlich, was macht man eigentlich, was denkt man übers Leben, über … eigentlich die wichtigen Themen des Lebens!

von Billerbeck: Sie haben in Ihrem Text, den Sie gestern Abend im Maxim Gorki Theater vorgetragen haben, auch geschildert, wie das ganz konkret passiert, wie die Kulturszene in Ungarn unter eine Politik des "Jetzt sind wir dran", also diejenigen, die vorher nichts zu sagen hatten – und da meine ich also die Zeit bis '89 und kurz nach '89, die also nach dieser ersten Vetternwirtschaft dann an die Macht gekommen sind –, diese "Jetzt sind wir dran"-Politik des Viktor Orbán, was passiert da konkret in der Theaterszene? Wir hatten ja hier schon viele Berichte darüber, aber schildern Sie das doch bitte noch mal aus Ihrer Sicht, wie das abläuft, wie eine Theaterszene, eine Kulturszene ja auf diese Linie gebracht wird!

Marton: Die Theaterszene kann man nicht getrennt von allem anderen betrachten. Leider ist es so eine gesellschaftliche oder eher politische Tradition in Ungarn, dass Seilschaften und Verbindungen darüber entscheiden können, wer in was für eine Position kommt. Das hat die jetzige Regierung nicht erfunden. Was momentan passiert, ist deswegen schlimmer, weil das anhand einer Ideologie stattfindet und einer Ideologie, die komplett falsch ist, anachronistisch ist und auf Unwahrheiten basiert, schlichtweg populistisch ist. Das ist ein riesiger Unterschied. Und der andere Unterschied ist, dass diese Regierung eine Zweidrittelmehrheit hat, das richtig programmatisch durchzusetzen, das also auf allen Fronten sozusagen passiert.

von Billerbeck: Sie hat auf demokratische Weise die Demokratie abgeschafft.

Marton: So ist es. Also, sie sind sozusagen dabei. Nach außen wird natürlich immer erzählt, dass das alles Paranoia sei, wenn man darüber redet, aber wenn man mit genauem Auge, mit psychologischem Auge die Äußerungen, die Texte, die das bekämpfen oder bestreiten wollen, wenn man nur diese Texte betrachtet, sieht man eigentlich, dass diese Menschen sich selbst in diesen Texten verraten.

von Billerbeck: Vielleicht kann ich da mal was vorlesen, was Sie gestern Abend vorgetragen haben aus einem Text, das ist also der neue Vorsitzende einer Akademie, der Ungarischen Kunstakademie, die quasi als Parallelorganisation neben die bisher bestehende offizielle Kunstakademie gestellt wurde. Und der sagt da, die Bedingung für eine Mitgliedschaft ist das offen eingestandene nationale Engagement. Wer Ungarn von außen beleidigt, wird kein Mitglied der Akademie sein können, auch nicht bei hoher künstlerischer Qualität. Als national denkenden Künstler verstehe ich denjenigen, der sich in erster Linie mit Fragen der ungarischen Nation beschäftigt, bei vielen mangelt es an diesem genetisch verankerten Gefühl. – Da wird mir als Deutscher ganz schlecht, wenn ich so was lese: Sie kommen auf jeden Fall nicht in diese Akademie!

Marton: Ich bin nicht so sicher, dass diese Akademie eine Akademie ist, zuerst. Ich glaube, diesen Text muss man ja nicht kommentieren. Die Grundfrage hinter dem aggressiven Charakter dahinter oder ausgrenzenden ist wahrscheinlich tiefer, dass es eine Bewegung gibt, eine kulturpolitische oder ideologische Bewegung, die bestimmen will, was ein Ungar ist. Und das ist vielleicht das Allergefährlichste, was ist ein Ungar. Und darüber bilden sich immer mehr Meinungen, die natürlich dann mit sich bringen, dass sehr viele aus diesem Begriff versucht werden ausgegrenzt zu werden. Und das ist vielleicht das momentane Grundübel.

von Billerbeck: David Marton war das, der ungarische Musiktheaterregisseur war bei uns zu Gast. Um die freie Kunst in Ungarn zu unterstützen, findet am Samstag um 18 Uhr im Berliner Maxim Gorki Theater eine Kunstaktion statt, die erste und vorerst einzige Sendung des "Radio ohne Frequenz Berlin-Budapest", die Kunstaktion von David Marton.


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