Eine Lange Nacht über Knut Hamsun

In die Wildnis verirrt?

Der norwegische Dichter ("Hunger") und Nobelpreisträger Knut Hamsun (eigentlich Knud Pedersen) macht sich im Jahr 1939 Notizen. Er wurde am 4. August 1859 in Lom (Oppland) geboren und starb am 19. Februar 1952 in Norholm.
Der norwegische Dichter ("Hunger") und Nobelpreisträger Knut Hamsun macht sich im Jahr 1939 Notizen. Er wurde am 4. August 1859 in Lom (Oppland) geboren und starb am 19. Februar 1952 in Norholm. © picture-alliance / dpa / DB
Von Florian Ehrich · 01.08.2015
"Was mich interessiert, ist die unendliche Beweglichkeit meines bisschen Seele", schrieb Knut Hamsun 1890 anlässlich seines ersten Romans "Hunger". Die frühen Werke des Norwegers waren radikal modern in ihrer Subjektivität, ihrer psychologischen Durchdringung und der souveränen Handhabung neuer Techniken wie dem inneren Monolog.
Hamsuns Helden sind oft extreme Charaktere, die sich im Aufstand gegen bürgerliche Konventionen oder gar die Herrschaft der Vernunft aufreiben. Ein ebenso faszinierendes wie gefährliches Spiel. Hamsun selbst hatte gegen alle Wahrscheinlichkeit seinen Traum realisiert: Der Bauernjunge aus einfachsten Verhältnissen und fast ohne Schulbildung wollte unbedingt Dichter werden. Nach rastlosen Wanderjahren in Norwegen und den USA, in denen die Not stets sein Begleiter war, etablierte er die kleinen Handels- und Fischerorte des Nordlands als Schauplätze der Weltliteratur.
1920 bekam er für sein hintergründiges Bauernepos "Segen der Erde" den Nobelpreis. Politisch war dieser Pionier der literarischen Moderne reaktionär. Sein Abdriften in den Faschismus schockierte viele Bewunderer wie Kurt Tucholsky oder Thomas Mann. Als die deutsche Wehrmacht im April 1940 das neutrale Norwegen besetzte, rief Hamsun seine Landsleute auf, keinen Widerstand zu leisten. Bei Kriegsende verfasste er einen grotesk anmutenden Nachruf auf Hitler und wurde wegen Landesverrats angeklagt.
Bis heute reißen die Debatten um sein politisches Versagen und sein problematisches Werk nicht ab. Seine Bücher, in denen stets der Ironiker Hamsun mit dem Ideologen Hamsun um die Vorherrschaft ringt, verlangen hellwache Leserinnen und Leser.

Knut Hamsun:
Ich habe mich nur durch eine Art analysiert, indem ich in meinen Büchern mehrere hundert verschiedene Gestalten geschaffen habe. Jede einzelne ist aus mir selbst entwickelt, mit Fehlern und Vorzügen, wie sie erdichteten Personen eigen sind.
Die sogenannte 'Naturalistische' Periode, Zola und seine Zeit, schrieb von Menschen mit Haupteigenschaften. Sie hatten keine Verwendung für eine fein abgestufte Psychologie, die Menschen besaßen eine 'vorherrschende Eigenschaft', die ihre Handlungen lenkte.
Dostojewski und mehrere andere lehrten uns alle etwas anderes vom Menschen.
Ich glaube, es findet sich von Anfang an in meiner ganzen Produktion nicht eine Person mit einer solchen ganzen, geradlinigen, herrschenden Eigenschaft. Sie sind alle ohne sogenannten 'Charakter', sie sind alle gespalten und zusammengesetzt, nicht gut und nicht böse, aber beides, nuanciert in ihrem Wesen und in ihren Handlungen wechselnd.
Und so bin zweifellos auch ich selber.
Es ist durchaus möglich, dass ich aggressiv bin, dass ich vielleicht ein wenig von all den Eigenschaften besitze, die der Herr Professor andeutet - verletzbar, misstrauisch, egoistisch, freigiebig, eifersüchtig, gerechtigkeitsliebend, logisch, gefühlvoll, kalte Natur - all diese Eigenschaften wären ja menschlich. Aber ich weiß nicht, ob ich einer von ihnen bei mir selber ein Übergewicht einräumen kann.
Zu dem, was mich ausmacht, gehört auch noch die Gnadengabe, die mich instand gesetzt hat, meine Bücher zu schreiben. Aber sie kann ich nicht 'analysieren'.
Brandes hat sie als 'göttlichen Wahnsinn' bezeichnet.
Göttlicher Wahnsinn. In der psychiatrischen Klinik in Oslo wurde im Oktober 1945 ein alter Mann auf seinen Geisteszustand untersucht. Gegen den Greis lag eine schwerwiegende Anschuldigung vor: Landesverrat. Fünfeinhalb Jahre früher hatte er zur Anpassung an die deutsche Besatzungsmacht in Norwegen aufgerufen und in zwei Dutzend Zeitungsartikeln, Radio- und Wochenschausendungen Propaganda für Hitlers NS-Regime gemacht.
Nun galt es herauszufinden, ob er überhaupt zurechnungsfähig war und verantwortlich gemacht werden konnte für sein Verhalten. Der Mann, der zunächst in ein Altersheim gebracht wurde und dann dem Psychiater Rede und Antwort stand, war Knut Hamsun, Norwegens berühmtester lebender Dichter und Nobelpreisträger für Literatur 1920. Während des Arrests begann Hamsun wieder zu schreiben: eine Art Tagebuch, ein Mosaik aus Beobachtungen und Erinnerungen, etwas Lyrik, erzählerischen Skizzen und dem stenografischen Bericht seiner Verteidigungsrede vor Gericht.
Jørgen Haugan: "Meine Meinung ist, was er mit "Auf überwachsenen Pfaden", im letzten Buch gemacht hat - er war im Gericht, und da hat er so eine Scheiße gesagt, und dann, jetzt schreibe ich weiter, ich war als Schriftsteller tot seit 1936, aber jetzt bin ich isoliert und fühle meine Inspiration wieder kommen. Und das ist wichtiger für mich als das Gericht und dass ich ein Landesverräter bin. Jetzt schreibe ich, und er hat so was gedacht, meine ich, wenn ich die Kriegshistorie erzählen kann in meiner Weise, dann kann ich gewinnen."
Jørgen Haugan, norwegischer Literaturwissenschaftler und Autor des Buches "Der Sturz des Sonnengottes".
Jørgen Haugan: "Und Hamsun, er wusste, wenn er etwas Provokatorisches gesagt hatte und isoliert wurde, dann wusste er, wenn ich das nächste Buch schreibe, dann gewinne ich meine Leser zurück. Denn ich habe so einen Stil, den man nicht ignorieren kann."
Auszug aus dem Manuskript der zweiten Stunde:
Knut Hamsun: "Nichts, nichts in der Welt ist mit diesem Gefühl zu vergleichen: abseits von allem zu sein, denke ich weiter. Das weiß ich noch aus meiner Kindheit, als ich daheim die Herde hütete. Bei gutem Wetter lag ich auf dem Rücken im Heidekraut und schrieb mit dem Zeigefinger über den ganzen Himmel weg und hatte glückselige Tage. Und die Tiere ließ ich gehen, wohin sie wollten, stundenlang, und wenn ich sie wiederfinden wollte, stieg ich nur auf einen Hügel oder auf einen hohen Baum und lauschte mit offenem Munde. Hier oben konnte man so gut hören, von wo der Klang der Herdenglocken kam, und wenn ich den erst hatte, fand ich auch die Herde gleich. Den Böcken gab ich hier und da eine Prise Kautabak, den ich für sie gestohlen hatte, und den Kühen gab ich Salz. Aber die Widder lehrte ich, sich mit mir zu stoßen. Es war ein herrliches Leben. Und keiner soll glauben, dass es mir bei Regenwetter übler erging. Da saß ich wohlbeschützt unter einem Busche oder einem Felsen. Da saß ich und trällerte oder schrieb auf weiße Birkenrinde oder schnitzte etwas mit meinem Taschenmesser. Ich kannte jeden Fleck im Umkreis, und wenn die Herde an eine andere Stelle wanderte, zog auch ich unter einen anderen Felsen, den ich kannte, und hatte es wieder gut. Niemand, der nicht von Jugend an darin aufgewachsen ist, kann sich vorstellen, welch zartes und seltsames Behagen darin liegt, bei Regenwetter im Freien zu sein und in sicherem Schutz zu sitzen. Ich habe später versucht, etwas darüber zu schreiben, aber es ist mir nicht gelungen. Ich wollte versuchen, es etwas in Stil zu bringen, um verstanden zu werden, aber da zerrann es mir."
Abseits von allem: Das Glück des Alleinseins ist ein ständig wiederkehrendes Motiv in Hamsuns Welt, ein zerbrechlicher und gefährdeter Zauber. Im nächsten Absatz meldet der Ironiker schon Zweifel an der eben noch beschworenen Schäferidylle an: Wie schön sei es doch gewesen, im Regen trockene Holzsohlen unter den Füßen gehabt zu haben, während man völlig durchnässt dem Vieh hinterher stolperte! Was Knut Hamsun aus der Distanz von dreißig Jahren beschrieb, nennt man heute Kinderarbeit.
Walter Baumgartner: "Dass er also als Hirte glücklich war - gut, die Kinder früher auf dem Land, er kommt aus landproletarischen Schichten, die mussten alle arbeiten, sobald sie konnten, und die leichteste Arbeit für einen Jungen war schon Schafe hüten. Da konnte man vielleicht den größten Teil des Tages einfach irgendwo sitzen und den Schafen zugucken. Aber sie mussten arbeiten und sie wurden nicht gefragt und nur so idyllisch und romantisch wie er das vielleicht später schildert um einen Kontrast zu haben für seine späteren Erlebnisse ist das wahrscheinlich nicht gewesen. Was er dann bei seinem Onkel erlebt hat, ist wahrscheinlich eher Normalität für einen wie ihn. Die mussten hart arbeiten, sie mussten beten, Katechismus büffeln und so weiter. Die Leute am Sonntag in der Kirche - die Bauern, oder auch die Bergarbeiter in Kongsberg zum Beispiel, wenn die am Sonntag in die Kirche gingen, nachdem sie die ganze Woche um fünf aufgestanden waren und um neun ins Bett kamen, wenn die in der Kirche einschliefen, wurden sie vom Küster mit einem langen Stock, der extra dafür da war, geweckt."
So der Hamsun-Biograf Walter Baumgartner.
Hamsun wurde am 4. August 1859 unter dem Namen Knud Pedersen in Lom in Gudbrandsdalen im Süden des Landes geboren. 1863 übersiedelte die Familie nach Hamarøy in Nordnorwegen, um einen Hof des Onkels zu bewirtschaften. Wenn die Kinder über etwas klagten oder jammerten, hieß es: "Das ist noch gar nichts, es kommt noch schlimmer!" Weil der Vater, Kleinbauer und Schneider, die Pacht schuldig blieb, wurde der aufgeweckte Junge mit neun Jahren zu seinem an Parkinson leidenden Onkel fortgeschickt um Frondienste zu leisten.
Walter Baumgartner:
"Und Knut Hamsun musste am Sonntag in den Andachten die sein Onkel als Laienprediger hielt sozusagen, musste er vorlesen, religiöse Texte von einem norwegischen Sektierer, Lars Oftedal. Und das war hart und die Texte sind unmöglich für Kinder und eigentlich auch für Erwachsene, es ist ein selbstquälerischer Ton, man muss ständig sich schuldig und sündig fühlen und Buße tun und Abbitte leisten. Und was soll ein Kind da, für was soll er sich da schuldig gefühlt haben?"
Auszug aus dem Manuskript der dritten Stunde:
Knut Hamsun, Nobelpreisrede:
Meine Damen und Herren,
Nein, wie soll ich mich einer so von Herzen kommenden Liebenswürdigkeit gegenüber verhalten! Sie erheben mich sehr hoch, und ich verliere den Boden unter den Füßen, der Saal braust mit mir davon. Es ist nicht gut, jetzt ich zu sein, ich bin heute Abend an Ehren und Reichtümern satt geworden, aber die letzte Huldigung war eine Welle, bei der ich ins Schwanken gerate.
Es kommt mir da zugute, dass ich auch früher im Leben - in den Tagen meiner Jugend - Gelegenheit bekommen habe, ins Schwanken zu geraten. Ich fühle mich verleitet, zu sagen, dass einem alle Dinge des Lebens einmal zugute kommen.
Aber ich werde mich hüten, vor einer so ausgewählten Versammlung über Weisheit zu sprechen - umso mehr, als hier die große Wissenschaft das Wort geführt hat. Ich habe der Akademie und Schweden im Namen meines Landes für die Ehre zu danken, die mir erwiesen wird, und persönlich muss ich meinen Kopf unter dem Gewicht einer großen Auszeichnung beugen. Ich bin stolz darauf, dass die Akademie meinem Nacken genügend Stärke zugetraut hat, sie zu tragen.
Ich schreibe meine Bücher auf meine eigene kleine Weise, aber ich habe von allen gelernt, nicht zumindest von der schwedischen Lyrik des letzten Menschenalters. Und wenn ich nun auf dem Gebiet der Literatur etwas beschlagener wäre, so würde ich dies im Anschluss an die letzte Rede ein wenig genauer ausführen. Aber das wäre ja von meiner Seite nur ein äußerliches Gehabe und ein Geschwätz, dem jeder echte Brustton fehlte. Auch bin ich dazu nicht jung genug, ich vermag es nicht.
In dieser Stunde, in all diesem Licht und in dieser glänzenden Versammlung täte ich jedoch eines viel lieber -
ich träte gern zu jedem einzelnen von Ihnen mit Blumen, mit Versen und Geschenken, wäre gern wieder jung und ritte auf der Woge dahin. Das ist es, was ich um eines so großen Anlasses, um ein letztes Males willen gern täte. Aber das wage ich nicht mehr, ich könnte das Bild nicht vor der Karikatur retten. Ich bin heute in Stockholm an Ehren und Reichtum satt geworden - jawohl, aber mir fehlt das Wichtigste, das Einzige, es fehlt mir die Jugend. Keiner von uns ist so alt, dass wir uns ihrer nicht mehr erinnerten. Es ziemt sich, dass wir Alten zurücktreten, aber dass wir es in Ehren tun.
Dessen ungeachtet, was ich nun tun sollte - ich weiß es nicht -, dessen ungeachtet, was sich am besten schickte - ich weiß es nicht -: ich leere mein Glas auf Schwedens Jugend, auf alle Jugend, auf alles Junge im Leben!
Knut Hamsun wurde 1920 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, und zwar allein für seinen 1917 erschienenen Roman "Segen der Erde", der sich in mancherlei Hinsicht absetzte von Hamsuns frühen Werken mit ihren neurotischen Helden. Die mehrheitlich erzkonservativ bis reaktionär gestimmte Jury interpretierte Alfred Nobels Testament, wonach der Preis für Literatur an eine "idealische Dichtung" gehen müsse, im Grunde als Appell, modernistischen Werken eine Absage zu erteilen zugunsten einer konservativen, tief im 19. Jahrhundert verankerten Auffassung von Dichtung. Hamsun hatte mit seinem in mancher Hinsicht tatsächlich monumental wirkenden Bauernroman inmitten des Ersten Weltkriegs mit seiner industriellen Tötungsmaschinerie das Evangelium vom friedlichen Leben auf dem Land im Einklang mit der Natur verkündet. Weil die Botschaft gefiel, wurden die ironischen Brechungen des Textes übersehen.
Knut Hamsun "Segen der Erde"
Eines Tages kam die Hilfe. Droben auf der Halde wanderte sie lange hin und her, ehe sie sich hervorwagte. Es wurde Abend, bis sie herankam, aber dann kam sie - ein großes, braunhäutiges Mädchen; sie war so üppig und derb, mit festen guten Händen, mit Lappenschuhen an den Füßen, obgleich sie keine Lappin war, und mit einem Kalbsfellsack auf dem Rücken. Sie war wohl schon etwas bei Jahren, höflich gesprochen, nahe an den Dreißigern.
Warum sollte sie sich denn fürchten? Sie grüßte, fügte jedoch rasch hinzu: Ich muss nur über die Berge, darum bin ich diesen Weg gegangen. - So, sagte der Mann. Er verstand sie nicht ganz, sie redete undeutlich und wendete überdies das Gesicht weg. - Ja, sagte sie. Und es ist ein sehr weiter Weg. - Ja, antwortete er. Willst du über das Gebirge? Ja. - Was willst du dort? - Ich habe meine Leute dort. - So, hast du deine Leute dort? Wie heißt du? - Inger, und wie heißt du? - Isak. - So Isak. Wohnst du hier? - Ja, ich wohne hier und habe es so, wie du hier siehst. - Das ist wohl nicht übel, sagte sie lobend.
Isak war im Denken ein ganzer Mann geworden, und nun kam ihm der Gedanke, dass sie wohl im Auftrag von jemand gekommen sei, ja dass sie direkt von zu Hause hierhergekommen sei und nicht weiter wolle. Sie hatte vielleicht gehört, dass ihm weibliche Hilfe fehle.
Komm herein und ruh dich aus! sagte er.
Sie traten in die Hütte, aßen von ihrem Mundvorrat und tranken von seiner Geißenmilch; dann kochten sie Kaffee, den sie in einer Blase bei sich hatte. Sie hatten es sehr behaglich beim Kaffee, ehe sie schlafen gingen. Nachts lag er da und war gierig nach ihr und bekam sie.
Am Morgen ging sie nicht wieder weg und den Tag über auch nicht; sie machte sich nützlich, melkte die Ziegen und scheuerte ihre Holzgefäße mit feinem Sand und machte sie sauber. Sie ging nie wieder fort. Inger hieß sie, Isak hieß er.
Nun begann ein anderes Leben für den einsamen Mann. Das einzige war, dass seine Frau undeutlich redete und wegen einer Hasenscharte immer das Gesicht wegwendete; aber das war nichts, um sich darüber zu beklagen. Ohne diesen verunstalteten Mund wäre sie wohl nie zu ihm gekommen, die Hasenscharte war sein Glück. Und er selber, war er ohne Fehl? Isak mit dem rostigen Vollbart und dem zu untersetzten Körper, er war ein greulicher Mühlgeist, ja wie durch eine verzerrende Fensterscheibe gesehen. Und wer sonst ging mit einem solchen Ausdruck im Gesicht umher? Es war, als könne er jeden Augenblick eine Art Barrabas loslassen. Es bedeutete schon viel, dass Inger nicht davonlief.
So sah es also aus, das Traumpaar der Heimatkunstbewegung und der Blut- und Boden-Ideologie der Nationalsozialisten. Eine heile Welt wird auch in diesem Buch nicht geschildert, wie schon der Umgang des Erzählers mit seinen Figuren zeigt. So etwas wie eine Unschuldsvermutung gibt es bei Hamsun ohnehin nicht. Der Schweizer Literaturwissenschaftler Walter Baumgartner:
Walter Baumgartner: "Hamsun ist ein ambivalenter Erzähler oder ein doppelgesichtiger oder ein hinterlistiger, ich weiß nicht, wie man das sagen soll. Erst baut er Sympathie auf, dann lässt er die Figur fallen, und dann gibt er wieder mildernde Umstände, dann unterstellt er ihnen zum Beispiel einen Mord, der dann vielleicht gar keiner war und so geht das ständig hin und her. Das ist eine Strategie, den Leser bei der Stange zu halten. Ich habe gesagt, 'Insinuation als Strategie'"
"Insinuation" - Die Unterstellung, Verdächtigung, Einflüsterung -
Walter Baumgartner: "... zum Beispiel bei "Segen der Erde", anscheinend ein idyllischer, harmloser Bauernroman, aber wenn man guckt, wie die Frau behandelt wird, die Inger, es wird ständig etwas insinuiert, dass sie vielleicht ein uneheliches Kind hat, dass sie das und das und so und so. Und dann kommt der Leser und fängt an auszurechnen: Vor neun Monaten war sie mit diesem schwedischen Telegrafenarbeiter beim Blaubeeren suchen und könnte da was gewesen sein? Und dann schlägt man nach und dann ist es ziemlich harmlos, das kann aber wiederum vom Erzähler vertuscht worden sein, was ihn nicht daran hindert, später wieder Verdächtigungen zu streuen. So geht das ständig hin und her und viele von diesen Insinuationen und Rätseln werden nie aufgelöst, man weiß bis zum Ende des Buches und auch wenn man es drei oder viermal gelesen hat nicht, was da eigentlich los war."
Auszug aus dem Manuskript:
In Deutschland ist Knut Hamsun ein halbvergessener Autor, viele seiner Werke sind im Buchhandel gar nicht mehr erhältlich. In Norwegen dagegen scheint das Trauma um den Landesverräter und Nobelpreisträger langsam überwunden. Die Eröffnung des "Knut-Hamsun-Zentrums" anlässlich seines 150. Geburtstages im Jahr 2009 unter Anwesenheit von Mitgliedern der Königsfamilie symbolisiert einen Prozess der Wiedereinbürgerung des Schriftstellers Hamsun. Janke Klok:
Janke Klok: "In der Öffentlichkeit würde ich sagen: Jetzt ist Hamsun zurück. Nicht ohne Kritik, aber als Schriftsteller und als norwegischer Schriftsteller ist er zurück und selbstverständlich nicht als nationaler Held, aber als norwegischer Schriftsteller, der Bücher geschrieben hat, die wichtig gewesen sind für die Entwicklung von Romanen und Literatur in Europa. Auf die Weise ist er absolut wieder anwesend."
Robert Ferguson ergänzt: "In Oslo gibt es keine Straße, die nach ihm benannt ist und keine Statue. Ich finde das gut, ich denke nicht, dass man Statuen von Dichtern braucht. Am Nationaltheater sehen wir Ibsen und Bjørnson und in Stein gehauen auf dem Giebel Ibsen, Bjørnson und Holberg. Da ist gar kein Platz mehr für jemand anderen! Ich denke, Hamsun sollte beweglich und rätselhaft bleiben. Deswegen habe ich mein Buch 'Enigma' genannt, man sollte niemals denken, jetzt habe ich ihn komplett verstanden, man sollte immer wieder über ihn nachdenken und nicht erwarten, zu einem endgültigen Schluss zu kommen."