Eine Lange Nacht über Attentate und Massaker

"Alle Liebe gilt dem Hass"

Der New Yorker Bürgermeister Bill di Blasio mit seiner Pariser Amtskollegin Anne Hidalgo gedenken der Opfer des Charlie-Hebdo-Attentates
Der New Yorker Bürgermeister Bill di Blasio mit seiner Pariser Amtskollegin Anne Hidalgo gedenken der Opfer des Charlie-Hebdo-Attentates © dpa/picture alliance/Christophe Petit Tesson
Eine Sendung von Sven Rücker · 15.08.2015
Ein Attentat ist eine Ausnahmehandlung, und dennoch sind Attentate so alt wie die Menschheit selbst. Von Brutus bis zum 11. September 2001, von Hiob bis zu Charlie Hebdo und weiter reicht eine Nachrichtenkette des Schreckens, die uns mit immer neuen Gewalttaten versorgt.
Jede Zeit hat dabei ihre spezifischen Attentäter. Während wir heute vielleicht reflexhaft an Islamisten denken, dachte das 19. Jahrhundert eher an Anarchisten. Vielmals aber sind Attentate nicht nur bloße Gewalt. Sie haben häufig auch eine symbolische Ebene. Und so vielfältig wie ihre symbolischen Ziele, so vielfältig sind auch ihre Akteure. Attentäter können verirrte, fehlgeleitete Kugeln sein, vom Leben aus der Bahn geworfen, sie können Überzeugungstäter sein, die für Ideen töten, sie können aber auch - wie im berühmten Fall des Tyrannenmords - Helden sein.
Die "Lange Nacht" versucht anhand von exemplarischen Fällen eine Typologie der Attentate zu entwickeln.

Die Ideologen und die Programmatiker
Aus allen Ecken der Welt, aus allen Epochen der Geschichte dröhnt ein panisches Stimmengewirr, laut und regelmäßig wie ein Vorschlaghammer, allgegenwärtig und beharrlich wie feiner Staub, der durch alle Ritzen unseres Bewusstseins dringt. Ein weißes Hintergrundrauschen der Gewalt begleitet uns permanent, eine Nachrichtenkette des Schreckens, die nie wirklich unterbrochen war, solange es menschliche Gesellschaften gab. Attentate sind so alt wie die Menschheit selbst.
Mag die Kette der Attentate auch endlos sein, bestimmte Glieder kehren immer wieder. Einzelne Glieder können aus der Kette des Schreckens herausgelöst werden, die exemplarisch für einen bestimmten Attentätertypus stehen, sodass am Ende eine Art Mengenlehre der Gewalt entsteht. In der Menge der Gewalt beschreiben Attentate zudem von vorne herein eine bestimmte Menge. Denn das Attentat - wörtlich der "Anversuch", als sei ihm sein Scheitern schon eingeschrieben - ist eine spezifische Form der Gewalt. Das Attentat trifft entweder eine öffentliche Person, oder der Attentäter will durch seine Handlung zu einer öffentlichen Person werden. Das Attentat markiert den Augenblick, an dem eine Privatperson oder Privatorganisation an die Öffentlichkeit tritt, die zuvor meistens unsichtbar war.
Weil dieser Akt des An-die-Öffentlichkeit-Tretens für Attentate essentiell ist, sind sie zwar immer konkrete, zugleich aber auch symbolische Gewaltakte. Sie sollen etwas ausdrücken, darum treffen sie meistens bestimmte öffentliche Personen und Repräsentanten. Der Inhalt dieser symbolischen Ebene ändert sich, nicht aber die Existenz einer solchen Ebene selbst. Attentäter sind meistens nicht nur mit Kalaschnikows, sondern auch mit "Ismen" bewaffnet und behaftet. Der vielleicht Typischste aller Attentätertypen ist darum der Ideologe oder Programmatiker, und mit ihm soll auch unsere Nachrichtenkette des Schreckens beginnen.
Der erste Schauplatz ist das New York der 60er-Jahre. Andy Warhol, der sogenannte "König des Underground" befindet sich auf dem Höhepunkt. Seine Factory ist das intellektuelle Zentrum Amerikas und zieht von überall her die Kreativen, die Sonderlinge, die ambitionierten Außenseiter an. Doch manche dieser Sonderlinge des Underground wissen, der König muss sterben, damit sie selber herrschen können. Der König des Underground ist tot, es lebe die Königin.
Schauplatz New York
Am 3. Juni 1968 betritt Warhol wie jeden Morgen seine Factory. Valerie Solanas, radikale Feministin, Schriftstellerin und Gelegenheitsschauspielerin, passt den Künstler vor den neuen Räumen seiner Factory ab, die in ein Nobelviertel umgezogen war. Sie fährt mit ihm im Aufzug in sein Büro in den vierten Stock. Dort gibt es einen kurzen Wortwechsel. Warhol ist bestrebt, den lästigen Eindringling loszuwerden. Solanas zieht daraufhin eine 32er Baretta aus einer Einkaufstüte und schießt dreimal auf ihn. Nur eine Kugel trifft, aber mit verheerenden Folgen: Sie durchschlägt nacheinander Warhols linken Lungenflügel, Galle, Magen, Leber und Speiseröhre, bevor sie durch den rechten Lungenflügel wieder austritt. Solanas, die sich wenige Stunden später am Times Square festnehmen ließ, wurde später zu 3 Jahren Haft im Matteawan State Hospital für kriminelle Geisteskranke verurteilt.
Die Frauenrechtlerin Valerie Solanas hat ein Attentat auf Andy Warhol verübt
Die Frauenrechtlerin Valerie Solanas hat ein Attentat auf Andy Warhol verübt© dpa/picture alliance/UPI
Solanas ist für Warhol keine Unbekannte. Lange Zeit trieb sie sich im Umfeld der Factory herum, bot Warhol nicht nur ihr Drehbuch "Up your Ass" – sinngemäß "Leck mich" – an, sondern spielte auch eine größere Rolle in einem seiner Filme: "I, a Man"., ich ein Mann – das ist bezogen auf Valerie Solanas zugleich der unpassendste und der passendste Titel. Als Gründerin und einziges Mitglied der "Gesellschaft zur Vernichtung aller Männer", der "Society for cutting up men", schrieb sie ein gleichnamiges Manifest, das sogenannte "S.C.U.M. Manifesto".
"Für sozial denkende, verantwortliche Frauen kann es in dieser Gesellschaft nur folgende Ziele geben: die Regierung stürzen, das Geldsystem eliminieren, vollständige Automatisierung einführen und die männliche Sexualität zerstören. Mittlerweile ist es technisch möglich, sich ohne männliche Hilfe zu reproduzieren und nur Frauen zu produzieren. Wir müssen sofort damit beginnen. Der Mann ist ein biologischer Unfall: Das männliche Y-Gen ist ein inkomplettes weibliches X-Gen, ein unvollständiger Chromosomensatz. Anders gesagt, Männer sind unvollständige Frauen, eine wandelnde Abtreibung. Männlich zu sein heißt defizient sein, emotional beschränkt. Männlichkeit ist eine Krankheit und Männer sind emotionale Krüppel."
So beginnt Solanas' Manifest. Und es beginnt mit einem Motiv, das den gesamten Text dominieren wird und dennoch einigermaßen überraschend ist. Denn obwohl Solanas so radikal wie keine andere den Geschlechterkrieg ausruft, sind die Männer nicht einfach das ganz Andere, der äußere Feind. Stattdessen sind sie selbst – wenn auch unvollständige – Frauen.
"Weil sie unvollständige Frauen sind, verbringen Männer ihr Leben in dem Versuch, sich zu vervollständigen, Frauen zu werden. Anders gesagt, Frauen haben keinen Penis-Neid, sondern Männer leiden unter Pussy-Neid."
Männer wollen sich eigentlich in Frauen verwandeln. Umgekehrt ist die gesamte gegenwärtige, männlich dominierte Gesellschaft bestrebt, Frauen in Männer zu verwandeln, sie also ebenfalls zu verkrüppeln, und – wie Solanas mit aller Verachtung sagt - in hilflose und abhängige "Daddy Girls" zu transformieren. Der Geschlechterkrieg, er kennt keine klaren Fronten, im Gegenteil, er wird von der Travestie beherrscht.
Wie immer in solchen Fällen brachte es auch Solanas´ Manifest erst durch das Attentat zu einiger Prominenz. Dass die New Yorker Sektion von NOW, der National Organization of Women, in einer Pressemitteilung nach der Tat Solanas zur Verfechterin von Frauenrechten erklärte, ist da nur eine – wenn auch besonders absurde – Reaktion. Zudem gibt es weltweit immer wieder Lesungen des Manifests, und die Band "Psycho Daisies" veröffentlichte ein Lied namens "S.C.U.M. Manifesto".
Norwegen: Attentat von Anders Breivik
Szenewechsel. Norwegen am 22.Juli 2011. Im Regierungsviertel von Oslo explodiert eine Bombe, die in einem Lieferwagen versteckt war und zerstört zahlreiche Regierungsgebäude, unter anderem auch das Büro des Regierungschefs Jens Stoltenberg. Wie sich bald herausstellen wird, war dieser Anschlag jedoch nur die Ouvertüre eines beispiellosen Massakers.
Eine Frau sitzt am 05.08.2015 auf der Insel Utøya (Norwegen) vor einem stählernen Ring, in den die Namen der Opfer der Terroranschläge eingraviert sind . Vier Jahre nach den Terroranschlägen von Anders Behring Breivik lädt die Jugendorganisation der norwegischen Arbeiterpartei (AUF) wieder zu einem Sommerlager auf der Insel Utøya ein.
Erstes Sommercamp nach dem Breivik-Attentat auf der norwegischen Insel Utoya © picture alliance / dpa / Sigrid Harms
Der Attentäter Anders Bering Breivik sitzt zu dem Zeitpunkt, als seine Bombe explodiert, bereits in einem Auto und nähert sich seinem eigentlichen Ziel. Während sich die frühe und chaotische Ermittlungsarbeit der Polizei ebenso wie die Berichterstattung der Presse auf die Geschehnisse in Oslo konzentrieren, steuert deren Urheber schwer bewaffnet und als Polizist verkleidet die Insel Utoya an, auf der das traditionelle Ferienlager der sozialdemokratischen Jugend stattfindet.
In seiner Polizeiuniform verlangt er, auf die Insel gebracht zu werden. Die Ereignisse in Oslo, so teilt er dem Bootsfahrer mit, machten zum Schutz der Jugendlichen eine Polizeipräsenz erforderlich. Einerseits lenkt der Bombenanschlag die Sicherheitsorgane ab und bindet ihre Kräfte, andererseits bereitet er sein eigentliches Ziel vor: die Vernichtung des Nachwuchses seines größten programmatischen Feindes, des sogenannten "kulturellen Marxismus".
Was nach seinem Übersetzen geschah, ist bekannt: In einem über eine Stunde währenden Massaker erschießt Breivik 69 Jugendliche, bis ihm die Munition ausgeht. Dann wartet er auf das Eintreffen der Polizei und lässt sich widerstandslos festnehmen. Insgesamt kamen bei beiden Anschlägen 77 Menschen ums Leben.
Fassungslos macht nicht nur die beispiellose Entgrenzung der Gewalt, die sich bewusst Kinder und Jugendliche als Opfer sucht, um den Nachwuchs vermeintlicher ideologischer Feinde zu eliminieren, sondern auch die ebenso kaltblütige wie intelligente Ausführung und Planung der Anschläge. Besonders aufschlussreich ist dabei Breiviks Verkleidung als Polizist. Einerseits setzt er die Wirkung, die eine Polizeiuniform als staatlich legitimierte Autorität gängigerweise auf Menschen hat, bewusst ein. Diese Wirkung beschreibt einer der überlebenden Jugendlichen von Utoya:
"He was in a police uniform. So first when I saw this uniform I thought: Well, that must be good, but he was heavy arme.So I was thinking that was weird but at least he was a policeman."
Selbst-Fanatisierung
Mourir pour des idées: Für Ideen sterben, das ist es, was Breivik und Solanas verbindet. Mit dem wichtigen Zusatz allerdings, dass die anderen, nicht sie selbst, für ihre Ideen sterben sollen. Beide schreiben lange Manifeste, die einerseits ihre Taten begründen und legitimieren sollen, andererseits einen Zirkel der Selbst-Fanatisierung bewirken. Je geschlossener ihre Gedankenwelt schriftlich zusammenwächst, je entschlossener schreiten sie zur Tat. Sie schreiben aus dem heißen Kern von Ideologien, dort, wo sie als Affektmobilisierungsmaschine funktionieren, die irgendwann unvermeidlich zur Kernschmelze führt. Im Unterschied zur normalen menschlichen Einbildungskraft sind beide beseelt von dem unbedingten Willen, die eigene Gedankenwelt – wenn sie schon nicht die Wirklichkeit ist – gewaltsam zu verwirklichen. Wie allen Fanatikern mangelt es ihnen an einer ironischen Distanz zur Welt und zu sich selbst, ebenso wie an der klassischen Erfahrung der narzisstischen Kränkung, der Erkenntnis eines Bruches zwischen Einbildung und Wirklichkeit.
Bei aller Aggressivität bleibt Solanas' Grundton dabei traurig-trotzig, eine depressiv verriegelte Psyche, die sich einmal entladen und freisprengen will. Breivik dagegen bleibt kalt, nüchtern, allenfalls leistet er sich einige triumphale Momente, wenn er gewahr wird, dass es ihm gelungen ist, alle eingebildeten Feinde in einem Manifest einzusperren und per Tastendruck im Voraus zu eliminieren. Aus beiden spricht der Hass: Aus Solanas spricht er zornig und traurig, aus Breivik sachlich und kühl. Damit repräsentieren beide die äußersten Enden des Typus programmatischer Fanatiker. Solanas hasste programmatisch ein Geschlecht, und die eigene Schwäche. Breivik hasste programmatisch ein Programm, eine kulturelle Programmierung, von der er glaubte, sie habe auch ihn erfasst und beinahe zerstört. Beide brauchten ein Programm, um eine fiktive, totale Herrschaftssituation zu konstruieren, die es ihnen möglich machte, sich selbst zu davon überzeugen, dass die Gewalt der einzige Weg ist, der ihnen bleibt. Dass es auch anders geht, dass Attentäter keine programmatische Legitimation brauchen und hinzuerfinden, sondern sich alles auf den Akt des Tötens konzentriert, wird die zweite Stunde zeigen.
Amoklauf Columbine High School
Gibt es so etwas, Mörder von Natur aus, "Natural Born Killers", wie sich Mickey Knox, die Hauptfigur aus Oliver Stones´ Film sieht? Im Film bricht nach der live übertragenen Rede und ihrem suggestiven Ende nicht nur der Jubel unter den Mitinsassen, sondern auch der blutige Gefängnisaufstand aus. Mickey scheint also mit seiner Selbsteinschätzung den Nerv seiner Mithäftlinge getroffen zu haben. Der Natural Born Killer, das ist das Gegenteil des Mörders mit Motiv. Seine Gewalt dient keinem rationalen Zweck, ist überhaupt kein Mittel zu einem bestimmten Zweck, sondern bricht vermeintlich grundlos und plötzlich hervor wie eine Naturkatastrophe. Gerade weil sie von Natur aus, also unvermeidlich, erfolgt, ist sie grund- und zwecklos, entzieht sie sich dem Verständnis, das Ursache-Wirkungsprinzipien und Mittel-Zeck-Relationen braucht. Das Hauptmerkmal einer solchen Gewalt ist dagegen die Kontingenz. Sie stellt nicht nur ein ästhetisches Faszinosum dar, sondern hat auch eine lange philosophische Tradition.
Polizisten am Tatort der Columbine High School
Polizisten am Tatort der Columbine High School© dpa/picture alliance/Mark Leffingwell
"Jefferson County 911. Yes, I am a teacher at high school, there is a student here with a gun, he has shot out a window, I believe – Columbine High School. – I don´t know what´s in my shoulder, if it´s just some glass or what. – Ok. – Has anyone been injured, ma´am? – Yes and the school is in panic, and I´m in the library. I´ve got - Students, down! Under the table, kids, heads under the tables!"
Dieser Notruf, der um 11:25 am 20. April bei der Zentrale eingeht, stammt von Patricia Nielson, einer Lehrerin der Columbine High School, die sich mit vielen Schülern in der Bibliothek versteckt hielt. Minuten zuvor haben Eric Harris und Dylan Klebold, zwei Schüler, die Columbine High School bereits betreten, in schwarz gekleidet und mit Pump Guns bewaffnet. Am Ende des Notrufs dringen Klebold und Harris in die Bibliothek ein. Zwischen den Schüssen hört man ihre euphorischen "Yeahs" und "Woobidoos". Sie feiern ein böses Fest, ein Schlachtfest. Sie feiern die Gewalt. Als die beiden Attentäter nach etwa 17 Minuten die Bibliothek wieder verlassen, haben sie 13 Lehrer sowie Schüler getötet und 21 verwundet. Danach laufen sie für fast 40 Minuten ziellos durch die Schule, ohne noch jemanden zu verletzen, bis sie schließlich erneut die Bibliothek betreten, um sich dort selbst zu erschießen.
"Sie werden fragen: 'Was haben sie sich dabei gedacht?', wenn wir Natural Born Killers werden, oder als wir es geplant haben. Hier ist, was ich denke: Ich habe das Ziel, so viel wie möglich zu zerstören, ich darf also nicht abgelenkt werden von meinen Gefühlen. Behaltet das im Kopf, ich will die Welt verbrennen, ich will jeden töten bis auf ungefähr fünf Leute. "
Auch wenn Klebold und Harris hier noch einmal die Unvermeidbarkeit ihres Gewaltexzesses betonen, zeigt sich doch deutlich, dass die zweckfreie, die wahllose Gewalt letztlich nur eine Inszenierungsform ist. Denn natürlich bezweckt der Amoklauf von Klebold und Harris etwas. Ihnen geht es um Ruhm, ihr Motiv ist unterdrückte Geltungssucht:
"Wenn jemand auf der Fahrt nach Hause absichtlich rast, dann ist es seine Schuld, wenn etwas passiert. Wenn er in einen Schulbus voller Kinder kracht und sie alle in den Flammen umkommen, dann ist es seine Schuld. ICH habe mich entschlossen, diese Menschen zu töten, also komm drüber weg! Es ist MEINE Schuld! Nicht die meiner Eltern, nicht die meiner Brüder, meiner Freunde, meiner Lieblingsbands, der Computerspiele, nicht die der Medien. Es ist MEINE! Hau ab und halt dein scheiß Maul!"
Auch auf die Gefahr hin, das Scheiß Maul doch nicht zu halten, muss festgestellt werden: Um sich gegen den juristischen Diskurs der Schuldunfähigkeit abzusichern, nimmt Harris seiner Tat gerade das, was ihm an ihr sonst am wichtigsten ist: ihre Besonderheit, ihre Singularität. Nun plötzlich ist sie doch strukturell nichts anderes als ein Autounfall. In seiner Logik braucht, wer ohne Schuld ist, gar nicht erst einen Stein zu werfen, da er auch nicht als derjenige angesehen werden würde, der den Stein ins Rollen brachte. Für jemanden, der nicht nur ein Stein, sondern eine Lawine sein wollte, eine unerträgliche Vorstellung. Dennoch, vielleicht auch gerade deshalb, werden wir das Attentat weiter von der Inszenierung des reinen Schreckens, des Bösen fortbewegen.
Die Helden und die Anonymen
Zwei Stunden lang haben wir der Nachrichtenkette des Schreckens Glied auf Glied hinzugefügt; nun hält sie scheinbar die gesamte Welt im Würgegriff. Begann sie im Falle Solanas´ mit dem gezielten Anschlag auf eine bestimmte Person, dem Regelfall des Attentats, wurde sie bei Breivik schon zu einem Anschlag auf eine große Gruppe, um sich bei Klebold und Harris schließlich potentiell auf alle zu beziehen. Aber hängt an dieser Kette nicht doch manchmal eine Perle? Ist manches, was böse glänzt, nicht doch Gold? Bereits am Ende der zweiten Stunde wurde die Kette des Schreckens brüchig.
Breivik, Klebold und Harris: Wie Projektile sind ihre Eigennamen ins kollektive Gedächtnis eingeschlagen und stecken dort nun fest. Und wie eine Kugel im Fleisch ist diese Präsenz zwar schmerzhaft, aber gerade durch den Schmerz umso fühlbarer.
"Die Medien und wir, die Polizei, haben Eric Harris und Dylan Klebold so berühmt gemacht. Wir haben sie zu Stars gemacht. Und das war das, was sie immer wollten. Sie haben es sogar selbst in den Videos gesagt. Sie wussten genau, dass sie berühmt werden würden. Und was passierte? Die Medien und wir haben sie berühmt gemacht."
So fasst Ted Mink, der Sheriff von Jefferson County, noch einmal den Teufelskreis von Gewalt und Ruhm zusammen. Ein Teufelskreis ist es deshalb, weil solche monströsen Taten natürlich nicht totgeschwiegen werden können. Die Bedingung für den negativen Ruhm ebenso wie für den positiven der heldischen Attentäter ist allerdings, dass das Attentat einen Ausnahmezustand darstellt, dass es eine Ausnahmehandlung bleibt. Die schockhafte Wirkung, auf die die Attentäter spekulieren, tritt nur ein, wenn das Attentat plötzlich und unerwartet geschieht, mit einem Wort: wenn es selten ist.
Was aber geschieht, wenn Attentate gewissermaßen gewöhnlich werden? Wenn sie uns nicht mehr aus unserem Alltag herausreißen, sondern im Gegenteil den Alltag bestimmen?
Wenn wir die Aufmerksamkeit nur ein wenig geographisch verschieben, zum Beispiel in den Nahen und Mittleren Osten, herrscht sofort ein völlig verschiedenes Bild. Das Attentat ist keine Ausnahmehandlung mehr. Es ist im Gegenteil eine fast alltägliche Erscheinung.
Sicher ist es nicht so, dass man sich an diese Form der Gewalt gewöhnen kann. Der auf Dauer gestellte Ausnahmezustand wird dadurch noch keine Normalität. Aber er verändert die Koordinaten grundlegend. Die Gleichung Attentat-Seltenheit-Ruhm hat keine Geltung mehr.
Thanatopien: Die Veralltäglichung der Gewalt
Orte, an denen Attentate "gewöhnlich" werden, also immer wieder, regelmäßig, geschehen, könnte man als "Thanatopien" bezeichnen: Räume, in denen der Tod herrscht, in denen den Tod zu geben und zu nehmen alltägliche Handlungen sind. Aber sie sind nicht nur imaginär, sondern in vielen Regionen Realität. Der Nordirak, Syrien, Jemen, Nigeria oder die Ostukraine – all diese Räume sind Beispiele für reale Thanatopien, rechtsfreie Ausnahmeräume ohne staatliche Strukturen, die man auch wahlweise dramatisierend "Todeszonen" oder technisierend "failed states" nennt. Ihr gemeinsamer Grundzug ist die Veralltäglichung des Attentats, die unbedingte Herrschaft direkter Gewalt. In dieser tödlichsten aller Welten zu leben, heißt, das Leben selbst nur noch als Sterben wahrzunehmen.
In Baghdad gehören Attentate zum Alltag. Das Bild zeigt einen Markt nach dem Anschlag am 06. August 2015
In Baghdad gehören Attentate zum Alltag. Das Bild zeigt einen Markt nach dem Anschlag am 06. August 2015© dpa/picture alliance/Ahmed Ali
Wer als Namenloser nicht sprechen kann, kann aber immer noch schießen und sich so einen Namen machen. Eben das taten zum Beispiel Klebold und Harris. In Thanatopien jedoch herrscht keine symbolische Ordnung mehr, in die man sich mit der Sprache der Gewalt einschreiben kann. Die Namenlosen bleiben auch als Agenten der Gewalt namenlos.
Umso verstörender ist die Tatsache, dass gerade diese Räume Gewaltsuchende aus allen Ländern anziehen. Den Thanatopien mangelt es nicht am Zuzug Todes- und Tötungswilliger. Dass etwa der IS seine Kämpfer auch erfolgreich in Europa rekrutiert, ist bekannt. Anstatt sich einen Namen zu machen, kommt es zu einem Exodus der Namenlosen. So kann ein Londoner Amateurrapper plötzlich im nordirakisch-syrischen Gebiet Geiseln enthaupten. Es entsteht ein regelrechter Gewalttourismus, der immer neue Kämpfer in die Thanatopien spült. Und man hat manchmal den Eindruck, es ist den sogenannten westlichen Staaten oder auch Russland ganz recht, dass solche Räume existieren – können so doch die eigenen potentiellen Attentäter exportiert werden.
Anstatt dass die verirrten Kugeln zuhause einschlagen, massakrieren sie sich gegenseitig in einer Art Disneyland der Gewalt. Das Ausagieren entfesselter Gewalt geschieht exterritorial, die Attentate bleiben im Sinne des westlichen medialen Übertragungsgeschehens anonym. Was die westlichen Gesellschaften durch die Einrichtung von Ghettos zuvor in ihren Großstädten erprobt haben – die Schaffung quasi rechtsfreier, gewalttätiger, aber umgrenzter Räume – scheint mehr und mehr zu einer geopolitischen Realität zu werden. Die failed states, sind sie nicht auch große Ghettos der enthemmten Gewalt, der alltäglichen und anonymisierten Attentate? Dass aber diese Umgrenzung der entgrenzten Gewalt auf Dauer nicht funktionieren kann, haben nicht erst die jüngsten Ereignisse in Frankreich gezeigt.
Am 7. Januar 2015 dringen die Brüder Said und Chérif Kouachi mit Kalaschnikows bewaffnet zunächst in das falsche Gebäude ein, in dem sich nur das Archiv des Satiremagazins befindet. Als sie ihren Irrtum bemerken, rennen sie in das daneben liegende Redaktionsgebäude, töten zunächst in der Lobby den Wartungstechniker Frédéric Boisseau, um anschließend die Redaktionsräume zu stürmen und dort weitere zehn Personen zu erschießen. Nach dem Attentat, das nur fünf Minuten dauert, fliehen die Täter mit einem Auto, treffen auf der Straße eine Polizeistreife, die sie mit Schüssen in die Flucht schlagen. Am Boulevard Richard Lenoir kommt es zu einer weiteren Schießerei, als eine Fahrradstreife versucht, die Täter aufzuhalten. Im Verlauf dieser Schießerei töten die Brüder den bereits verwundet am Boden liegenden Polizisten, den Moslem Ahmed Merabet, mit einem Kopfschuss aus nächster Nähe. Dieser Mord, der gefilmt und im Internet veröffentlicht wurde, erregte weltweit Entsetzen.
"Wir sind die Verteidiger des Propheten Mohammed. Ich, Chérif Kouachi, wurde von der Al Kaida im Jemen geschickt, ich bin auch dorthin gereist."
Diesen Aussagen entsprechend wurde wenig später bekannt, dass die beiden Kouachi-Brüder 2011 tatsächlich in den Jemen gereist waren, wo sie scheinbar von der dortigen Al-Kaida ausgebildet wurden. Die Al Kaida Jemen erklärte sich schließlich auch zum Urheber des Attentats. Die Schockwelle, die das Pariser Attentat weltweit auslöste, war besonders hoch. Ob die Identitätsaussage des Slogans "Je suis Charlie", der sich global verbreitete, wirklich passend ist oder nicht doch eine gewisse Distanz- und Respektlosigkeit den Opfern gegenüber darstellt, sei dahingestellt. Sie zeigt in jedem Fall die starke symbolische Wirkung des Attentats. Die durch ihre Mohammed-Karikaturen bekannt gewordene Satirezeitschrift Charlie Hebdo war ohnehin ein symbolisch aufgeladenes Ziel und entsprechend wurde das Attentat auch als Angriff auf die Werte der westlichen Zivilisationen selbst, auf die Presse- und die Meinungsfreiheit, verstanden. Dass dabei der vielleicht sogar noch schrecklichere zweite Akt des Attentats, der Mord an vier völlig Unbeteiligten in einem jüdischen Supermarkt, in den Hintergrund rückte, ist zwar mehr als bedauerlich, demonstriert aber, wie die symbolische Gewalt von Attentaten alles andere überlagert.
Die erste Ausgabe von "Charlie Hebdo" nach dem Anschlag zeigt eine Karikatur Mohammeds auf dem Titel
Die erste Ausgabe von "Charlie Hebdo" nach dem Anschlag zeigt eine Karikatur Mohammeds auf dem Titel© imago stock&people
Von der Periferie ins Zentrum: Die Kouachi-Brüder
Zum einen entspricht das Charlie-Hebdo-Attentat der angesprochenen Matrix: Die Kouachi-Brüder, Vollwaisen und Heimkinder, Namen- und Sprachlose im Sinne Rancières, reisen in den thanatopischen Raum Jemens, kehren zurück und tragen die Thanatopie in die westlichen Zentren. Doch der Pariser Anschlag eröffnet noch einen weiteren Referenzraum. In vielem ist er das Echo des Attentats von Anders Bering Breivik. So wie sich Breivik als Gotteskrieger verstand, der zwar nicht im Namen eines ontologischen Gottes, aber im Namen eines symbolischen, im Namen der „christlich-europäischen Kultur" mordete, so sahen sich auch die Pariser Attentäter als Gotteskrieger, die sich in einem zugleich symbolischen und konkreten Kampf mit dem säkularen Westen befinden, dessen Produkt sie aber zugleich selber sind. Und so wie Breivik ein Doppelattentat beging, so handelte es sich auch bei der Pariser Tat um einen Doppelanschlag. Wäre das eigentlich geplante zweite Attentat auf eine jüdische Schule durchgeführt worden, wäre der Bezug zu Breivik sogar noch direkter und eindeutiger gewesen.
Und wie sich das islamistische Charlie-Hebdo-Attentat auf Breivik beziehen lässt, so bezog sich Breivik wiederum auf den islamistischen Terror. Zwei wesentliche Inspirationsquellen benennt sein Manifest. Da ist zum einen der Unabomber Kaczynski, wie Breivik selbst ein gefallener Engel, eine luziferische Gestalt voll böser Klugheit, Prototyp der ideologischen Attentäter, der fehlgeleiteten Intellektuellen. Da ist aber zum anderen eben auch Al Kaida, der Breivik seitenweise Analysen widmet und von deren Taktik man, so Breivik, lernen müsse.
Hier schließt sich der Kreis von Terror und Terror, in dem jeder Terror behaupten kann, nur Gegenterror zu sein. Und hier schließt sich auch der Kreis unserer Langen Nacht, und die Glieder der Kette fügen sich zusammen. Breivik und die Al Kaida oder IS-Teroristen, sie sind Todfeinde, aber sie sind sich auch zum Verwechseln ähnlich; Beispielfälle einer reziproken, eskalativen Gewalt, in der sich die Gewalt, der einen in der der anderen spiegelt, diese aufnimmt, zurückgibt, um sie dann wieder zu empfangen. Die Mimesis des nicht endenden Grauens: Wie feindliche Brüder oder Doppelgänger umschlingen sich die Attentäter in tödlichen Umarmungen und schließen dabei die Kette des Schreckens.
Die Ideologen und die Programmatiker, die Wahllosen und die Getriebenen, die Helden und die Anonymen – wie Schreckgespenster eines Totentanzes zogen sie an uns vorüber. Und wenn es am Anfang schien, als sei die unüberschaubare Menge der Attentate so willkürlich, so chaotisch und kontingent wie der Schrecken, den sie auslösen, so hat sich nun gezeigt, dass sie tatsächlich Glieder einer großen Kette sind, in der sich jedes Attentat auf vorherige bezieht, und dass in ihrem Totentanz die immer gleichen Masken in neuen Variationen an uns vorüberziehen. Doch auch wenn sich auf diese Weise die Kette schließt, bleibt sie doch endlos. Auf der Kreisbahn der Gewalt gesellt sich zum Terror der Attentate der Terror des Immergleichen. Wenn nichts sicher ist, so scheint doch zumindest eines sicher: Die Nachrichtenkette des Schreckens reißt nicht ab, die Gewalt endet nicht. Sie wird erst mit dem Menschen selbst aufhören zu existieren. Erst wenn es niemanden mehr zum Töten gibt, wird es kein Töten mehr geben. Wie René Girard schreibt: Der Traum vom Ende der Gewalt ist selbst ein gewalttätiger Traum. Die Lange Nacht der Attentate hatte andere Träume. Auf sie folgt kein friedlicher Tag und kein Erwachen in einer anderen Welt.