"Eine Krisensituation mit besonderer Schärfe"

Jürgen Kocka im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 27.06.2012
Nach Einschätzung von Jürgen Kocka entscheidet sich in der gegenwärtigen Phase, ob die europäische Integration weiter voranschreitet - oder ob sogar ein Rückschritt droht. Es gebe drei Krisen auf dem Kontinent, weshalb sich die Lage so zuspitze, sagt der Sozialhistoriker.
Korbinian Frenzel: Wenn Sie jetzt das Wort Eurokrise hören, dann geht es Ihnen wahrscheinlich wie vielen, wie auch gar nicht so selten uns in der Redaktion: Es dreht sich einem der Kopf angesichts all der Details, der Debatten um Ratings und Rettungsschirme, angesichts dieser Neverending Story.

Wir wollen deshalb an dieser Stelle auch nicht über Details reden, wir wollen das tun, was unter anderem auch Wolfgang Schäuble Anfang dieser Woche erneut angestoßen hat, nämlich ein bisschen weiter denken über die Zukunft Europas und über die Gefahren, die wir vielleicht als die, die mitten drin sind in diesem Krisensturm, gar nicht sehen.

Jürgen Kocka war Professor in Bielefeld und an der Freien Universität Berlin, er ist Historiker und somit natürlich per se jemand, der in größeren Linien denkt. Wir erreichen ihn in Brüssel am Telefon. Einen schönen guten Morgen, Herr Kocka!

Jürgen Kocka: Guten Morgen!

Frenzel: Wie dramatisch ist das, was wir derzeit erleben? Steht Europa, steht die Zukunft dieses Projektes wirklich auf Messers Schneide?

Kocka: Ich denke schon, dass es eine Krisensituation mit besonderer Schärfe ist, in der sich entscheidet, ob die europäische Integration weiter voranschreitet, wenn auch schrittchenweise - oder aber rückläufig wird. Das liegt meines Erachtens daran, dass sich mehrere Krisen derzeit überschneiden: einmal diese Krise der europäischen Integration, wo es entweder weitergehen muss oder aber rückläufig wird, nicht aber den Status Quo man verteidigen kann, zweitens eine Schuldenkrise, die die verschiedensten westlichen Länder betrifft und außerordentlich schwer zu lösen ist und drittens eine Krise der Finanzmärkte und des Kapitalismus, der neue Regulierungen braucht. Die Kumulation dieser drei Krisen macht das Gegenwärtige so zugespitzt, so schwierig, aber vielleicht auch zur Chance, denn der Reformdruck ist hoch, es muss also was geschehen.

Frenzel: Über die Chancen reden wir gleich noch. Erst noch mal vielleicht zur Analyse dieser Krise. Die Endphase der Weimarer Republik – Publizisten wie Jakob Augstein haben den Bezug dazu hergestellt, und dann vor allem auch mit Blick auf die deutsche Rolle. So wie damals die deutsche Politik die Krise verschärfte, so brandgefährlich handelt heute auch Angela Merkel. Das sagt er, das sagt Joschka Fischer in ähnlichen Worten - teilen Sie diese Analyse, machen wir die selben Fehler wie Anfang der 30er-Jahre?

Kocka: Den Vergleich mit Endphase Weimar halte ich für übertrieben. Einer der großen Unterschiede: Damals standen links und rechts, entschiedene Feinde der Demokratie, die ein anderes System wollten. Solche Feinde der europäischen Integration sind jetzt nicht zu sehen. Es krankt eher an der inneren Schwäche dieser Integrationsbemühungen.

Frenzel: Aber es geht den Kritikern ja vor allem auch darum, das, was man als Brüning’sche Sparpolitik bezeichnet, was Angela Merkel und der deutschen Regierung vorgeworfen wird, dass genau das eben der Brandbeschleuniger ist derzeit in dieser Krise. Gibt es da Parallelen aus Ihrer Sicht?

Kocka: Das kann ich nicht so sehen. Ich denke, dass der Versuch, die gegenwärtige Krise auch dadurch zu lösen, dass mehr Finanzdisziplin in den verschiedensten Ländern eingesetzt zu Wege gebracht wird, das ist im Grunde ein richtiger Ansatz. Ob daraus jeder einzelne Schritt zu begründen ist, den die deutsche Regierung derzeit in ihrer Zurückhaltung beispielsweise gegenüber dem Schuldentilgungsfonds betreibt, ob das alles daraus folgt, ist eine andere Frage.

Ich denke, sie könnte und müsste da weiter gehen. Aber insgesamt ist heute die Verschuldungssituation eine ganz andere als um 1930, viel bedrückender, viel systemischer. Und sie muss in den Griff bekommen werden, sonst werden die anderen Lösungen ebenfalls scheitern.

Frenzel: Wie sehr hängt es denn überhaupt an Personen, an einer Angela Merkel. Wäre die Geschichte eine andere, wenn, sagen wir, Gerhard Schröder noch regieren würde, oder – um den Unterschied vielleicht noch deutlicher zu machen – wenn ein überzeugter Europäer wie Helmut Kohl noch im Kanzleramt säße und die Krise meistern müsste?

Kocka: Solche krisenhaften Zuspitzungen haben es, denke ich, schon an sich, dass die Wirkungsmacht einzelner Personen ausgeprägter wird als dann, wenn Politik nur Routine ist. Von daher ist es mein Eindruck, dass gegenwärtig in der Tat kleine Gruppen von Leuten, die Entscheidungen vorbereiten und durchzusetzen versuchen, erhebliche Entscheidungsmacht haben - und damit natürlich besonders die Bundeskanzlerin, aber auch Finanzminister Schäuble.

Vielleicht – ich denke, dass sich das auch auswirkt, insgesamt scheint mir die Politik Merkels in die richtige Richtung zu gehen. Ob sie in der Lage ist, auch in der Öffentlichkeit hinreichend zu dramatisieren und zu werben, ist dagegen eher zweifelhaft. Andererseits ist die Politik, die ein – beispielsweise Frau Merkel – zu treiben ein Spiel mit sehr vielen Bällen, welches dauernd an die Grenzen festgezurrter Strukturen und komplizierter Koalitionen stößt, sowohl auf der europäischen Ebene wie innerhalb Deutschlands, wie Beachtung der Verfassung und des Bundesverfassungsgerichts. Es besteht also keine völlige oder auch nur weitgehende Freiheit der einzelnen Akteure heute, sondern es ist Politik im Rahmen von Strukturen und Prozessen, die enge Grenzen ziehen.
Frenzel: Herr Kocka, Wolfgang Schäuble hat Anfang der Woche eine Art europäischen Bundesstaat als logische Konsequenz aus dieser Krise skizziert, und das geht seiner Meinung nach nur darüber, dass das deutsche Volk direkt befragt wird, eine Volksabstimmung. Brauchen wir einen solchen großen Wurf als Antwort auf eine große Krise?

Kocka: Vor allen Dingen kommt es drauf an, dass wir dazu beitragen, dass sich in der breiten Öffentlichkeit die Haltung dazu ändert. Hier herrscht vor die Auffassung, dass alle an den deutschen Geldbeutel heran wollen, dass Deutschland das Geberland ist, dessen Spenderbereitschaft demnächst an die Grenzen stößt. Umgekehrt fordern alle anderen mehr Solidarität der Deutschen gegenüber anderen Europäern.

Ich schlage vor, die Sache anders zu sehen und zu fragen, was die Deutschen von dieser europäischen Integration haben. Und das ist ökonomisch und politisch ungeheuer viel, und das ist auch die Chance, dass die deutsche Politik an einer großen historischen Aufgabe – der Vereinigung Europas – mitwirkt, und von daher Sinn, zusätzlichen Sinn bekommt, im Bezug, auf den sie in späteren Geschichtsbüchern auch beurteilt werden kann. Wenn das gelingt, dann ...

Frenzel: Blick in die Geschichtsbücher ist ein gutes Stichwort, Herr Kocka: Herr Wolfgang Schäuble hat in dem "Spiegel"-Interview vom Anfang dieser Woche gesagt, als Ronald Reagan 1987 vorm Brandenburger Tor Gorbatschow aufgefordert hat, dies Tor, die Mauer niederzureißen, hätte er niemals geglaubt, dass es so schnell, dass es innerhalb von zwei Jahren passieren würde. Wenn wir jetzt auf diese Eurokrise schauen, glauben Sie, dass wir uns auch noch mal wundern werden, wie schnell sich die Welt hier um uns verändert?

Kocka: Sie verändert sich jetzt schon schneller, als wir vor ein paar Jahren dachten. Es mag sich in der Tat weiter beschleunigen, aber es wird ein schrittweiser Prozess bleiben, es wird nicht den großen Befreiungsschlag auf einem der Gipfel geben. Aber in der Tat wird die Frage der Volksabstimmung auftauchen, und das Bundesverfassungsgericht wird vielleicht schon in seinem nächsten Urteil diese Perspektive andeuten.

Umso wichtiger ist es, das Bewusstsein nicht nur der einzelnen Handelnden, sondern das Bewusstsein der breiten Bevölkerung auf diese großen Gefahren und großen Chancen vorzubereiten, die in der gegenwärtigen Situation sind, und da spielen die Medien eine riesengroße Rolle.

Frenzel: Das sagt der Historiker Jürgen Kocka. Herzlichen Dank für dieses Gespräch!

Kocka: Bitteschön!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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