Eine Katharsis

16.03.2010
Etwas ist anders im dritten Band der Tagebücher von Martin Walser, die jetzt erschienen sind. Wir kennen bereits zwei Bände, die die Zeit von 1951 bis 1973 betreffen, und die waren zwar ungewöhnlich, aber nicht weiter aufsehenerregend. Sie enthalten zu einem großen Teil Arbeitsnotizen. Figuren werden entworfen, dialogische Szenen, die auf seine Theaterambitionen verweisen; manchmal gehen sie erkennbar aus bestimmten Ereignissen hervor.
Das ist zunächst auch jetzt so, wenn es um die Jahre von 1974 bis 1978 geht. Aber dann geschieht etwas Unerhörtes. Am 27. März 1976 wird Walsers neuer Roman "Jenseits der Liebe" in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" exemplarisch vernichtet. Die ersten Sätze lauten: "Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman. Es lohnt sich nicht, auch nur ein Kapitel, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen." Und plötzlich wird Walsers Tagebuch zu einer Form, die innersten Gefühle auszuagieren. Wie besessen, manisch drehen sich mehr als hundert Druckseiten ausschließlich um jene Kritik.

Sie löst in Walser ausschweifende Fantasien des Vernichtens und des Vernichtetwerdens aus. Sein Verleger Siegfried Unseld hat ihm den Verriss angekündigt, just an diesem Samstag fährt Walser mit dem Zug nach Frankfurt, wo er eine Lesung hat, und entgegen seiner Vorsätze kauft er sich die Zeitung doch am Bahnhof. Im Zug schreibt er dann zunächst einen "Offenen Brief an die Buchhändler", in dem er zu Reaktionen aufruft, dann eine "Rede an Herrn R-R", in der er dessen Herkunft aus dem Stalinismus anprangert: "Ich sage Ihnen also, dass ich Ihnen, wenn Sie in meine Reichweite kommen, ins Gesicht schlagen werde. Mit der flachen Hand übrigens, weil ich Ihretwegen keine Faust mache. Sollte Ihre Brille leiden, wird meine Haftpflichtversicherung dafür aufkommen. Sie werden, bitte, nicht auch noch die Geschmacklosigkeit haben, diese Ankündigung und ihre gelegentliche Ausführung als Antisemitismus zu bezeichnen."

Es ist eine Katharsis, die Walser durchläuft. Mit der Zeit drängen sich auch immer wieder erotische Obsessionen vor. Eine unbändige Lebensgier drückt sich schon in der äußeren Form aus: Walser begleitet seine Notate mit Zeichnungen, graphischen Experimenten, ungeheuren Ausdrucksschüben. Und in zwei Wochen im heißen August 1977 schreibt er "Ein fliehendes Pferd" – eine Übung in der kleinen Form, eine eindeutig mehrheitsfähige Prosa. Die Novelle wird sogleich in der "FAZ" vorabgedruckt, und jener Chefkritiker führt es unter der Überschrift ein: "Ein Glanzstück".

Walsers Tagebuch gibt gerade zwischen 1974 und 1978 unausschöpfliche Aufschlüsse über die Aporien der Schriftstellerexistenz, über die Triebkräfte des Schreibens. Es ist ein Grundlagenwerk.


Besprochen von Helmut Böttiger

Martin Walser: Leben und Schreiben. Tagebücher 1974-1978.
Rowohlt Verlag, Reinbek. 590 Seiten, 24,95 Euro

Links auf dradio.de:
Martin Walser: "Leben und Schreiben. Tagebücher 1951-1962"
Martin Walser: "Leben und Schreiben - Tagebücher 1963 - 1973"
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