Eine jüdische Familiensaga

Rezensiert von Gabriele von Arnim · 07.06.2006
Charles Lewinsky erzählt in "Melnitz" eine Familiensaga über eine jüdische Familie in der Schweiz. Über mehrere Generationen hinweg schildert der Autor das jüdische Leben, und er gibt Einblicke in den Antisemitismus Schweizer Ausprägung.
Charles Lewinsky ist ein Schweizer Autor, der in Zürich und Frankreich lebt, Theaterstücke geschrieben hat und Romane und hoch erfolgreiche "sitcoms" fürs Schweizer Fernsehen. Jetzt hat er ein "opus magnum" vorgelegt, an die 800 Seiten dick, das seit Monaten in der Schweiz die Bestsellerlisten anführt.

"Melnitz" heißt das Werk und ist ein epischer, ein üppiger, süffiger Roman, eine Familiensaga über eine jüdische Schweizer Familie, die wir über mehrere Generationen hinweg begleiten – von 1871 bis 1945. Ein Buch über jüdisches Leben- über Feste und Gebräuche, über das kleinstädtische Miteinander, über Heiratsvermittler, Wohltätigkeitsveranstaltungen, Tuchhandel und Turnvereinsfeste (mit einem umfangreichen Glossar jiddischer Ausdrücke).

Es beginnt mit dem Viehhändler Salomon Meijer in Endingen, der stolz darauf ist, ein ehrlicher Jude zu sein. Ein würdiger Altvorderer, dem nicht gefällt, was nach ihm kommt. Denn da gibt es auch solche, die schräge Geschäfte machen. Janki zum Beispiel, der Hereingeschneite, der im Krieg war, ohne auch nur Geschützdonner je gehört zu haben, sich aber eine Kriegsverletzung zulegt, um zum Kriegeshelden avancieren zu können - was gut ist für das Geschäft.

Janki ist erfolgreicher Tuchhändler in Baden. Sein Sohn wird schon zum Besitzer des ersten großen Warenhauses in Zürich. Es gibt glückliche Ehen und elende, es gibt Geschäftemacher, hehre Sozialisten und pedantische Lehrer, es gibt die verwöhnte Mimi mit dem perlenden Lachen, die ihre dramatischen Gesten den Heldinnen im Stadttheater abschaut, es gibt Pinchas, den Schlachter, der mit Worten so gut umzugehen versteht wie mit dem Messer und deshalb auch als Journalist arbeitet; es gibt einen Nachfahren, der homosexuell ist und einen Ururenkel, der Zionist wird – auch ein jüdischer Verräter kommt vor, der aber gehört nicht zur Familie.

Und es gibt eine Erfahrung, die sie alle gemeinsam haben – und das ist der Antisemitismus. In der Schweizer Ausprägung zumeist. Ausgrenzend also, demütigend, hässlich und wortstark - aber nicht mörderisch.

Wer akzeptiert werden will in der Gesellschaft, muss sich anpassen an sie - diese Devise durchzieht das Buch.
Der Besitzer des großen Warenhauses nennt sich nicht mehr Schmul, sondern Francois. Nicht mehr Meijer sondern Meier. Reich und ehrgeizig ist er und lässt sich sogar taufen, um ein Grundstück in bester Lage kaufen zu können, dessen Besitzer sich weigert, Geschäfte zu machen mit einem Mann mosaischen Glaubens.

Natürlich bekommt Francois das Grundstück trotzdem nicht. Denn: Ein Jud bleibt ein Jud, egal, wie oft er sich taufen lässt.
Das sagt Melnitz. Onkel Melnitz. Titelfigur des Romans, Chronist und Warner, der den Antisemitismus erkennt, wo keiner ihn sieht, oder besser gesagt, ihn nicht sehen will; Melnitz, der hellsichtig die Nationalsozialisten als die Gefahr erkennt, die sie sind, der eigentlich längst tot ist und immer wieder lebendig wird, um die aufzurütteln, die immer wieder hoffen auf Anerkennung und getäuscht werden durch falschen Schein.

Du bist tot, sagt der getaufte und von Melnitz gebeutelte Francois einmal zu ihm, Wann wirst du das endlich einsehen?
"Wenn ich es nicht mehr nötig habe, lebendig zu sein." antwortet Melnitz.

Im letzten Kapitel ist Melnitz die Erinnerung an sechs Millionen Ermordete, ist der tote Jude an und für sich, der sich in jedes Gespräch mischt, in jedes Bett legt, in jeden Traum dringt –und das ist ein problematisches Kapitel, weil es den Massenmord fast zur poetischen Erinnerung stilisiert.

Insgesamt aber ein süffiger Lesestoff – und am Ende ist man so verwoben in die Familie, dass man sich gar nicht trennen mag von ihnen. Man hat ein bisschen geweint, ein bisschen gelacht, hat hin und wieder aufbegehrt und sich auch gelangweilt- wie es einem halt so geht, wenn man sich in Familien aufhält.
Das ist alles sehr schön und konventionell erzählt. In einer leichten, bilderreichen Sprache. Der ideale Schmöker für einen regennassen Frühling.

Charles Lewinsky: Melnitz
Nagel & Kimche
776 Seiten, 24,90 Euro