Eine Giftpflanze, die glücklich macht

Von Udo Pollmer · 01.01.2012
An Neujahr gibt es wieder jede Menge Glückwünsche, die einschlägigen Symbole sorgen für Nachdruck: Schornsteinfeger, Marienkäfer, Hufeisen - und natürlich der Fliegenpilz. Der gilt ursprünglich wegen seiner halluzinogenen Wirkung als Heilsbringer.
Zum Neuen Jahr haben die Symbole des Glücks wieder Hochkonjunktur: die süßen Marzipanschweinchen mit dem Glückspfennig in der Schnauze oder die Blumentöpfchen mit vierblättrigem Klee und roten Glückspilzchen mit weißen Tupfen drauf. Wie kommt es, dass wir uns zu Neujahr mit giftigen Fliegenpilzen beschenken, statt mit einem Körbchen frischer Austern-Seitlinge? Wegen der hübschen Farbe? Wohl kaum, dann täten es auch Orangen und Zitronen.

Auch der Name "Fliegenpilz" hilft nicht wirklich weiter, denn den verdankt er der profanen Tatsache, dass er Fliegen und Mücken betäubt: So empfahl der Botaniker Adam Lonitzer im 16. Jahrhundert, ins heutige Deutsch übersetzt: "Die roten Fliegenpilze soll man in Milch sieden und den Mücken hinstellen, damit sie davon sterben". Daher wurden bei uns früher die Hauswände mit Pilzbrei bestrichen, um Insekten fernzuhalten. Zwar werden sie davon nur betäubt und nicht getötet, aber man kann sie leichter platt hauen.

Der Grund für die Popularität des Pilzes liegt nicht in seiner Wirkung auf Fliegen, sondern auf Menschen. Im ersten deutschsprachigen "Drogenbuch" aus dem Jahre 1855 mit dem Titel "Die narkotischen Genußmittel", heißt es: "Die Phantasie wird durch den Fliegenschwamm ähnlich angeregt, wie es beim Opium und Haschisch der Fall ist. Der Effect tritt aber meist erst nach ein oder zwei Stunden ein. Dann legen sich die Trinker auf den Rücken, singen und schwärmen von Glück und Liebe, Reichthum und Ansehen und bilden sich, wie es heißt, ein, wohlbeleibt und fett zu sein ... "

Das hatten sich schon unsere Vorfahren nicht entgehen lassen, in ihren Sagen reitet Wotan zur Wintersonnenwende, also zu Beginn des neuen Jahres, durch die Wolken. Dort wo aus dem Maul seines Pferdes der Schaum auf die Erde tropft, würden später Fliegenpilze wachsen. Ein Pilz also, der ein Geschenk der Götter war. Und ein Glücksfall für die Menschen. Daher rührt sein symbolischer Wert.

Personen, die auf einem Fliegenpilz-Trip sind, fühlen sich extrem stark, schier unüberwindlich und unverwundbar. Vieles lässt an die Beschreibung denken, die antike Autoren von der "Berserkerwut" nordischer Völker im Kampf gegeben haben. Berühmt-berüchtigt waren die ungeheuren Kräfte, die sie im Rausch entwickelten, und die tiefe Erschöpfung, in die sie nach dem "Berserkergang" fielen.

Frische Fliegenpilze enthalten bis zu ein Prozent der giftigen Ibotensäure. Wenn der Pilz getrocknet wird, wandelt sich diese Säure in Muscimol um, den Stoff, der zu Halluzinationen führt. Der Pilz regt die Sanges- und Fabulierfreude an, sorgt für rauschhafte Ekstase und große körperliche Ausdauer.

Die meisten Menschen halten den Fliegenpilz für einen tödlichen Giftpilz. Einige bereiten ihn aber auch als leckere Mahlzeit zu - nicht seiner berauschenden Wirkung wegen, sondern sie schätzen ihn als Speisepilz. Die Gifte befinden sich hauptsächlich in der Huthaut und sind größtenteils wasserlöslich. Die rote Haut wird deshalb entfernt und der Pilz über Nacht in Wasser eingelegt. In Teilen Russlands und Japans gelten gekochte und gesalzene Fliegenpilze bis heute als ganz normales Lebensmittel. Selbst in Deutschland kamen sie früher in die Pfanne.

Da jedoch Vergiftungen nicht ausgeschlossen sind, bekommen wir zu unserem Glück heute den Fliegenpilz nur noch als Schokoartikel zu Neujahr. Unseren Bedarf an Speisepilzen decken wir vorzugsweise in Supermärkten. Und als Genussmittel dient uns zum Jahreswechsel der Sekt. Der ist weitaus bekömmlicher als die Drogen unserer germanischen Vorfahren. Insofern sind wir Heutigen echte Glückspilze. Mahlzeit!

Literatur
Bibra, E, Freiherrrn von : Die narkotischen Genußmittel und der Mensch. Wilhelm Schmid, Nürnberg 1855
Rubel W, Arora D: A Study of cultural bias in field guide determinations of mushrooms edibility uzsing the iconic mushroom, Amanita muscaria, as an example. Economic Botany 2008; 62: 223-243
Bauer W et al: Der Fliegenpilz. AT Verlag, Aarau 2000
Pollmer U et al: Opium fürs Volk. Rowohlt, Reinbek 2010