"Eine gewisse Interventionsmüdigkeit" der Staatengemeinschaft

02.02.2013
Nach Ansicht des Sicherheitsexperten Karl-Heinz Kamp müssen die europäischen Länder nicht bei jeder Krise gemeinsam intervenieren, wie Mali zeige. Der "Schönheitswettbewerb" zwischen EU und Nato sei vorbei.
Christopher Ricke: Wie sichern wir die Welt, wer hat welche Verantwortung zu tragen und wann ist die Schwelle zum militärischen Eingreifen überschritten? Letztlich: Wer führt? Das alles kann man diskutieren, es wird gerade diskutiert auf der Sicherheitskonferenz in München. Die aktuellen Brandherde haben wir vor 40 Minuten in unserem Korrespondentengespräch verhandelt, jetzt soll es um die Strategie für die nächsten Jahre und Jahrzehnte gehen, insbesondere für die Europäer, auch für Deutschland, für die NATO. Die bisherige Führungsmacht, die USA, haben ja deutlich zu erkennen gegeben, dass sie den Fokus nicht mehr auf Europa richten, sondern dass es andere, sicherheitspolitisch wichtigere Regionen gibt, den Pazifikraum. Und General Egon Ramms sagte in dieser Woche in unserem Programm:

"Wenn die Amerikaner, der Präsident, der Verteidigungsminister, der vormalige, davon reden, sich auf den pazifisch-asiatischen Raum zu konzentrieren, müssen sich die Europäer die Frage stellen, was müssen wir tun, um die Lücke, die die Amerikaner hier bei uns hinterlassen, zu füllen? Diese Frage ist bisher politisch noch nicht gestellt worden."

Ricke: Was müssen wir tun, um die Lücke zu füllen, die die Amerikaner hinterlassen? Ich spreche jetzt mit Karl-Heinz Kamp, er ist Direktor am NATO-Verteidigungskolleg in Rom, guten Morgen, Herr Kamp.

Karl-Heinz Kamp: Einen schönen guten Morgen, grüße Sie.

Ricke: Diese Frage stellen heißt, wenigstens versuchen, sie in Ansätzen zu beantworten. Wie lässt sich diese Lücke denn füllen?

Kamp: Also, zunächst mal, glaube ich, ist es wichtig zu sehen, dass diese Veränderung des amerikanischen Blickwinkels Richtung Asien und Pazifik ja nicht gegen Europa gerichtet ist, sondern einfach der Tatsache Rechnung trägt, dass es in Europa weniger, wie die Amerikaner sagen, unfinished business gibt, und dass es dann nur folgerichtig ist, dass sich die Supermacht mehr in weniger stabile Regionen orientiert. Das heißt für die Europäer zunächst einmal, dass wir auch unseren Fokus, dass wir ebenfalls Asien und Pazifik auf dem Radarschirm haben müssen, weil da natürlich wichtige Handelswege hergehen und weil Entwicklungen dort für uns nicht ohne Einfluss bleiben.

Ricke: Die Probleme, die die Europäer aber unmittelbar vor der Tür haben, die sind akut und aktuell. Und die Schlagkraft der Europäer – man muss nur nach Mali schauen – ist ja keine koordinierte, da gehen die Franzosen alleine voran.

Kamp: Deshalb ist es wahrscheinlich vernünftig, sich langfristig zu überlegen, ob wir nicht zu ein bisschen Arbeitsteilung kommen. Dass man sagt, die Europäer, die nun mal nicht die Möglichkeiten haben, auch militärisch so weit zu reichen, dass es bis zu Asien, Pazifik reicht, können sich stärker auf ihre Nähe, auf den Bereich um Europa herum konzentrieren – und das hat man gesehen in Libyen und man sieht es zum Teil auch in Mali –, während die USA mit ihren globalen Möglichkeiten sich auf wesentlich entfernt liegendere Dinge konzentrieren kann. Und wenn man so was aushandelt und wenn man so was nicht im Streit, sondern in der Abstimmung macht, dann kann so was sehr funktionieren. Und die ersten Ansätze dafür sehen wir schon.

Ricke: Wir feiern ja in diesem Jahr 20 Jahre Eurokorps, also 20 Jahre multinationaler militärischer Verbund von Deutschland, Frankreich, Belgien, Spanien, Luxemburg, bald sind auch noch die Polen dabei. Aber wie gesagt, in Mali sind es die Franzosen, die den Kampf gegen die Islamisten anführen, da ist doch von einer europäischen Koordination nichts zu erkennen?

Kamp: Ja gut, aber es ist ja auch eine Frage, ob man wirklich in jeden Krisenherd herein muss und herein möchte. Sie haben natürlich auch nach Afghanistan, wo die internationale Staatengemeinschaft länger, bald zweimal so lange war als der Zweite Weltkrieg gedauert hat, Sie haben nach Libyen, Sie haben nach den Vorgängen in Syrien, Sie haben eine gewisse Interventionsmüdigkeit auf allen Seiten. Die USA haben 20 Jahre lang Krieg auf höchster Ebene geführt und, wie gesagt, die Europäer waren mit all ihren Möglichkeiten in Afghanistan. Also, es ist auch eine Frage, ob man wirklich als EU oder als NATO überall hin muss oder ob man dann nicht sagt, Frankreich hat aus historischen Gründen, aus naheliegenden Gründen die Initiative für Mali ergriffen und die anderen helfen nun, soweit sie können und soweit sie wollen. Das ist immer eine Einzelfallentscheidung.

Ricke: Wenn man eine starke Organisation will innerhalb der Europäischen Union unter dem Dach der NATO, dann gibt es ja die Möglichkeiten, dass, wie wir es jetzt in Mali erleben, einzelne Staaten vorangehen oder dass man sich koordiniert, dass die Franzosen und die Briten sich europäischer Abstimmung unterwerfen oder eben die anderen EU-Staaten den Franzosen und den Briten. Was ist denn da der richtige Weg?

Kamp: Also, zunächst einmal hat diese europäische gemeinsame Verteidigungspolitik, die hat ja in den letzten Jahren nicht wirklich funktioniert. Und wir haben uns lange in einem Entweder-Oder herumgestritten, das war so eine Art Schönheitswettbewerb, wer nun die wichtige Organisation ist, sicherheits- und verteidigungspolitisch, die NATO oder die EU? Wir sind jetzt wenigstens so weit, dass es nicht nur ein Entweder-Oder gibt, das hat gestern der deutsche Verteidigungsminister hier auf der Konferenz gesagt, sondern ein Sowohl-Als-auch. Das heißt, militärisch handlungsfähig wird man erst durch die NATO, und auch in Libyen haben ja die Europäer zwar sehr viel geleistet, sie haben das unter eigener Führung gemacht, aber mit wesentlicher Unterstützung der USA. Das heißt, die Europäer alleine können es immer noch nicht. Das hängt auch mit Fähigkeiten zusammen und letztlich auch mit dem Willen. Das heißt, Europa als EU konzentriert sich immer noch mehr auf das Wirtschaftliche, und wenn man sich dann darauf einigt, dass Sicherheitspolitik transatlantisch ist, dann können damit alle leben.

Ricke: Der Verteidigungsminister de Maizière hat ja ausdrücklich vor einer europäischen Armee gewarnt und sagte, es sei nicht sinnvoll, Doppelstrukturen zu schaffen, sozusagen die NATO zu klonen. Ist das denn wirklich eine Befürchtung?

Kamp: Also, er hat etwas anderes gesagt, er hat gesagt, etwas salopp ausgedrückt: Kommt mir jetzt nicht mit neuen Visionen und neuen Ideen, mit denen ihr alle Jahre kommt, sondern macht erst mal die kleinen Schritte, die wir beschlossen haben. Und gemeinsame Sicherheitspolitik ist nun mal etwas, was in sehr kleinen Schritten funktioniert. Offenbar sind Staaten eher bereit, auf die eigene Währung zu verzichten, deswegen haben wir den Euro, als wirklich auf das letzte Wort bei dem Einsatz ihrer Streitkräfte. Das ist nun mal so.

Insofern hat er gesagt, kommt mir jetzt nicht mit einer neuen Euro-Armee, wo eine Vielzahl von Ländern das einfach nicht wollen, sondern lasst uns die kleinen Schritte – gemeinsame Flugzeugbetankung, gemeinsamen Lufttransport, alles das, was unser konkretes Handeln besser werden lässt –, lasst uns das umsetzen, und aus diesem Grunde brauchen wir keine Euro-Armee. Er hat das nicht auf alle Jahre und Jahrzehnte ausgeschlossen.

Ricke: Diese kleinen Schritte sollen ja jetzt langfristig zum Ziel führen, dass wir eine bessere, eine gut funktionierende Sicherheitsarchitektur bekommen. Aber mit einer europäischen Sicherheitsarchitektur sind natürlich auch immer Kosten verbunden und Geld ist knapp. Muss man also in Zukunft Sicherheitspolitik auch immer unter einen Finanzierungsvorbehalt stellen?

Kamp: Das werden sie sowieso machen. Es gibt Leute, die sagen, man kann doch nicht Sicherheitspolitik nach der Haushaltslage machen. Doch, das kann man, Sie bauen auch Ihr Haus, das Sie ganz gerne hätten, nach Ihren Möglichkeiten, und nicht nach dem, was Sie sich vorstellen. Und wenn Sie sich ganz zum Schluss mal überlegen, dass, wenn Sie die Verteidigungshaushalte aller NATO-Staaten zusammen nehmen, und wenn Sie dann auch noch die Länder dazu addieren, mit denen die NATO eng kooperiert und die politisch so ticken wie wir – also Neuseeland, Australien, Japan, Südkorea –, dann kommen Sie auf ungefähr 80 Prozent aller weltweiten Militärausgaben. Wenn das nicht reicht, um mit unseren Problemen fertig zu werden, dann machen wir irgendwas falsch. Und das ist, glaube ich, der Punkt, wo man ansetzen muss.

Ricke: Karl-Heinz Kamp, er ist Direktor am NATO-Verteidigungskolleg in Rom, vielen Dank, Herr Kamp.

Kamp: Sehr gerne.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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