Eine Geschichte der Schrulligkeit

04.12.2011
Den Begriff des "Nerds", einem verschrobenen Typen mit autistischen Zügen, gibt es erst seit den 1950er-Jahren. Die skurrile Gestalt, die sich dahinter verbirgt, ist jedoch schon lange bekannt. Der Autor Jörg Zittlau zählt zum Beispiel die Philosophen Aristoteles und Friedrich Nietzsche dazu.
Skurrile Typen gab es immer schon. Jene verschrobenen Außenseiter, die sich stundenlang in ein Problem vertiefen können, denen körperliche Fitness nicht so wichtig ist und die bei der Begegnung mit anderen Menschen immer etwas linkisch oder auf Partys fehl am Platz wirken. Diese "Nerds", findet Sachbuchautor Jörg Zittlau in seinem gleichnamigen Buch, haben eine lange Geschichte.

Thales? Ein Nerd. Archimedes ebenfalls. Aristoteles? Na klar. Nietzsche sowieso. Albert Einstein? Unbedingt. Andy Warhol? Aber sicher. Bill Gates, Steve Jobs, Julian Assange? Keine Frage!

Jörg Zittlau fasst historische und gegenwärtige Personen unter dem Begriff Nerd zusammen und stellt ihre Schrullen, aber auch ihre Besonderheiten in Kurzbiografien dar. Obwohl es die Bezeichnung "Nerd" für etwas merkwürdige Fachidioten erst seit den 1950er-Jahren gibt, verfolgt sein Buch den Typus des "nerdigen" Einzelgängers quer durch die Geschichte. Dass dieser Typus gerade heute so augenfällig in Erscheinung trete, hängt seiner Meinung nach mit unserer Gesellschaft zusammen: je liberaler sie ist, desto unverstellter können die Nerds sich in ihr zeigen.

Eine nette Theorie. Allerdings liest sich Jörg Zittlaus Zusammenstellung wie ein etwas beliebiges Konglomerat von Philosophen, Künstlern und Wissenschaftlern, an denen er wahlweise verschiedene Eigenschaften aus einer 13 Punkte umfassenden Liste ausmacht, darunter ein hoher Grad an Spezialistentum, die Fähigkeit zum Tunnelblick, ein Desinteresse an Körperhygiene, materiellen oder modischen Dingen, Sozialphobie, einen Hang zum Autismus, Schwierigkeiten im Umgang mit Frauen (Nerds sind meist männlich) und das Tragen von Brillen. Davon dürfte das ein oder andere auf ziemlich viele Menschen zutreffen, ohne dass man sie deswegen als Nerds bezeichnen würde.

Zur Untermauerung seiner Thesen verweist er immer wieder auf Filme und TV-Serien, in denen ein bestimmter Wesenszug des Nerds besonders charakteristisch aufscheint. Filme aber zeigen allenfalls Stereotypen. Sie taugen kaum als Leumund für echtes nerdiges Verhalten. Und wenn er dann auch noch Mönche als Nerds im Dienste Gottes versteht, dann fragt man sich spätestens hier, wie ernst der Autor sein Buch überhaupt verstanden wissen will.

Der Versuch, eine äußerst inhomogene Gruppe von Menschen im Laufe der Geschichte unter einen neumodischen Begriff zu subsumieren, ist ohne Zweifel eine witzige Idee. Doch geht diese Idee nur auf, solange man das Buch mit demselben Augenzwinkern liest, der sich schon im Untertitel andeutet. Ganz ernst nehmen kann man es einfach nicht. Das verhindert schon sein grob vereinfachendes und zu sehr medial geprägtes Weltbild ("Nerds, die sich der dunklen Seite der Macht verschrieben haben, können enormen Schaden anrichten").

Aber eine flüssige Sprache, ein flotter Stil und nette Anekdoten aus den Leben der dargestellten "Nerds" machen das Buch trotzdem zu einem kurzweiligen Lesevergnügen.

Besprochen von Gerrit Stratmann

Jörg Zittlau: Nerds. Wo eine Brille ist, ist auch ein Weg
List Verlag (Ullstein), Berlin 2011
240 Seiten, 14,99 Euro