"Eine ganz schwere Krise"

Andreas Batlogg im Gespräch mit Dieter Kassel · 08.02.2010
Die Vorwürfe würden im Jesuitenorden aufgeklärt und strafrechtlich relevante Dinge den Staatsanwälten zugeführt, sagt Andreas Batlogg, Chefredakteur der jesuitischen Monatszeitschrift "Stimmen der Zeit". Er verteidigt das Zölibat als "Zeugnis in unserer übersexualisierten Gesellschaft".
Dieter Kassel: Man kann nicht sagen, dass es harmlos anfing, denn der sexuelle Missbrauch von Schutzbefohlenen ist natürlich niemals etwas Harmloses, aber es fing zumindest räumlich und zeitlich begrenzt an, als vor noch nicht einmal zwei Wochen der Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin, Klaus Mertes, öffentlich zugab, dass es an dieser Schule in den 70er- und 80er-Jahren zu sexuellem Missbrauch durch zwei damalige Lehrer gekommen war. Schnell allerdings wurde klar, es gab noch mindestens einen Dritten, diese Personen haben auch an anderen Schulen Kinder missbraucht, und nach und nach gab es immer mehr Geschichten über immer Schulen und immer mehr andere Einrichtungen der katholischen Kirche. Im aktuellen "Spiegel" nun ist das Ganze sogar die Titelgeschichte, und da wird nun darüber berichtet, dass es in allen 27 katholischen Bistümern in Deutschland solche Fälle gegeben hat, dass es seit 1995 fast 100 Geistliche gab, die unter Verdacht geraten sind. Begonnen aber – wir erinnern noch einmal daran – hat das Ganze mit öffentlichen Eingeständnissen an einer Jesuitenschule, und deshalb wollen wir jetzt mit Andreas Batlogg reden. Er ist selber Jesuit und er ist der Chefredakteur der Monatszeitschrift der Jesuiten "Stimmen der Zeit". Schönen guten Morgen, Herr Batlogg!

Andreas Batlogg: Guten Morgen, Herr Kassel, nach Berlin!

Kassel: Als Sie das gehört haben vom Canisius-Kolleg, dieses öffentliche Eingeständnis der Fälle aus den 70er- und 80er-Jahren, haben Sie damals schon geahnt, dass dadurch eine solche Lawine losgetreten werden könnte?

Batlogg: Ich hab es befürchtet. Ich war entsetzt, ich war sehr traurig und ich habe befürchtet, dass das möglicherweise nur die Spitze eines Eisbergs ist.

Kassel: Warum gerade jetzt, liegt das wirklich nur daran, dass Pater Klaus Mertes angefangen hat, oder hat das noch andere Gründe, dass das jetzt alles ans Tageslicht kommt?

Batlogg: Ich glaube, es gab seit einiger Zeit Hinweise, aber da ging es auch um die Anonymität der Opfer, die ausdrücklich keine Öffentlichkeit wollten. Und durch irgendwelche Vorgänge, die mir nicht näher bekannt sind, ist jetzt eben die Sache an die Öffentlichkeit gelangt, und Pater Mertes hat ebenso wie der Provinzialpater Dartmann sofort alle erforderlichen Maßnahmen in Gang gesetzt, um ein Prozedere in Gang zu bringen, das vor allem an Aufklärung interessiert ist.

Kassel: Und was für Maßnahmen sind das?

Batlogg: Zunächst mal wurde sofort die vom Orden beauftragte Rechtsanwältin, Frau Raue, informiert, an die sich Opfer gewandt haben, und der Rektor, Pater Mertes, wie auch der Provinzial haben eben dann die entsprechenden Informationen gesammelt und überlegt, wie muss jetzt die Öffentlichkeit informiert werden.

Kassel: Für einen Teil dieser Öffentlichkeit steht inzwischen die ganze katholische Kirche, für diese Vorfälle steht jeder katholische Geistliche unter Generalverdacht. Was bedeutet das für die Kirche in Deutschland?

Batlogg: Das ist sicher eine ganz schwere Krise, eine ganz traurige Situation und eine schwere, schwere Belastung.

Kassel: Nun muss man natürlich Schlüsse ziehen für die Zukunft. Und solche Schlüsse bieten auch schon verschiedene Angehörige der katholischen Kirche an. Alois Glück zum Beispiel, der Vorsitzende des Zentralkomitees der deutschen Katholiken in Deutschland, hat in einem Interview ganz eindeutig einen generellen Zusammenhang hergestellt zwischen diesen Missbrauchsvorwürfen und dem – so sagt er das wörtlich – Verdrängen und Tabuisieren von Sexualität in der katholischen Kirche. Hat er recht?

Batlogg: Ich weiß nicht, ob er recht hat, ich gehöre einem Orden an, der jetzt mit diesen Vorwürfen und Anklagen konfrontiert ist, und da ist es schwer, immer Ferndiagnosen zu stellen. Wir Jesuiten befinden uns in einem Lernprozess, das ist ganz offensichtlich, und viele von uns fragen sich jetzt natürlich, wer hat was gewusst, geahnt, wurde adäquat reagiert vor 20, vor 30 Jahren. Und das größere Umfeld, wie hängt Missbrauch zusammen mit priesterlicher Lebenskultur oder Unkultur mit Zölibat, mit Störungen, das ist etwas, was einer ganz seriösen Betrachtung bedarf.

Kassel: Na, dann folge ich Ihnen zunächst mal, was die Fehler, die damals gemacht wurden, anging. Wir haben nun viele Geschichten gehört – und das betrifft ja auch die Lehrer am Canisius-Kolleg damals – viele Geschichten gehört von Geistlichen, die Pädophile sind, die auffällig geworden sind und die dann aber einfach an andere Einrichtungen geschickt wurden, und man soll – so steht es auch im aktuellen "Spiegel" – dann jeweils den anderen Gemeinden oder den anderen Schulen, wo die gelandet sind, gar nicht mitgeteilt haben, warum die versetzt wurden. Muss man da nicht eigentlich den damaligen Vorgesetzten fast mehr Vorwürfe machen als den wirklichen Tätern, denn, das wissen wir ja heute, echte Pädophilie ist eine Krankheit, als Vorgesetzter alles zu verdrängen, ist ja nicht krankhaft.

Batlogg: Richtig. Ich meine, ich denke, es ist schwierig, vom heutigen Wissensstand aus Vorgänge, die 30, 40, 50 Jahre zurückliegen, zu beurteilen, auch mit dem Wissen, das man heute hat und das damals eben möglich war, aber bei uns wird das jetzt jedenfalls schonungslos aufgeklärt, und es wird sicher auch im Lernprozess, in dem der Orden steckt, darum gehen, welche Mechanismen kommen in Gang, wenn ein Oberer, ein Provinzial, ein Rektor von so was erfährt, wer muss wann wie informiert werden. Und da wurden offensichtlich Fehler gemacht.

Kassel: Es stellt sich aber trotzdem die Frage, auch wenn Sie gerade schon gesagt haben, diese Frage ist so grundsätzlich, dass man sie nicht in einem kleinen Interview beantworten kann, was sicher richtig ist, aber stellt sich trotzdem die Frage: Woran liegt es denn, dass offenbar diese Fälle in kirchlichen Zusammenhängen sehr leicht vorzukommen scheinen. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Zölibat und Pädophilie?

Batlogg: Ich sehe keinen unmittelbaren Zusammenhang, aber ich sag mal so, Karl Graf Dürckheim sagt, wir haben nicht Sexualität, wir sind Sexualität, und zölibatäres Leben bedeutet ja nicht Verzicht auf Intimität. Und etwas, worauf Wunibald Müller, ein Psychotherapeut, sehr stark hinweist, ist ja auch: Ich muss eine Intimitätsbefähigung entwickeln, auch als zölibatärer Mann oder als zölibatäre Frau, und das ist einfach wichtig. Gelübde ablegen heißt nicht, dass ich Sexualität ablege, und wenn ich da nicht lebenslang dran arbeite, kann es natürlich auch zu schweren Fehlern, Vergehen oder Störungen kommen.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur mit Andreas Batlogg. Er gehört selbst dem Jesuitenorden an und ist Chefredakteur der jesuitischen Monatszeitschrift "Stimmen der Zeit". Sie haben in dieser Zeitschrift auch selber in Editorials immer wieder über die Priesterausbildung und über die Auswahl von Priestern geschrieben und nicht selten – ich habe da ein paar alte Texte gelesen – nicht selten hat da auch die Frage des Umgangs mit Sexualität, die sexuelle Reife eine Rolle gespielt. Braucht man also in der Kirche stärkere Kontrollen bei der Aufnahme von Priestern?

Batlogg: Natürlich wurden die Aufnahmekriterien in den letzten Jahren überprüft. Ich bin 1985 Jesuit geworden, seitdem hat sich sehr vieles verändert. Unser Novizenmeister ist ein Psychotherapeut, der sehr viel Erfahrung mit jungen Menschen hat. Da hat sich vieles geändert, rein in den letzten 20 Jahren. Das war vor 50 Jahren noch ganz anders.

Kassel: Nun ist das ja aber auch innerhalb der katholischen Kirche nicht völlig unumstritten, wer, wenn ich das mal so einfach sagen darf, wer darf und wer nicht. Es gibt seit Neuestem Richtlinien aus dem Vatikan, die ziemlich klar besagen, dass man Homosexuelle fernhalten soll vom Priesteramt, dass man auch vorher irgendwie testen soll, ob jemand homosexuelle Neigungen hat. Hat er die, darf er nicht. Ist das so einfach?

Batlogg: Homosexualität ist ein anderes Thema und wird sehr oft mit Missbrauch gleich ursächlich in Verbindung gebracht. Ob ich homosexuell oder heterosexuell bin, ist noch keine Voraussetzung dafür, dass ich zum Missbrauchstäter werden kann oder nicht. Aber Sie haben recht, die Kirche muss sehr sorgfältig sein bei der Auswahl derjenigen, die zum Priesteramt zugelassen werden, und das versucht ja auch die Deutsche Bischofskonferenz mit Richtlinien sicherzustellen und auch der Vatikan.

Kassel: Aber ist das logisch, wer das Zölibat annimmt, wer bereit ist, dieses, wenn ich das so nennen darf, Opfer zu bringen für seine Berufung zum Priester, der muss ja den körperlichen Teil seiner Sexualität ablegen. Und ob er nun die Heterosexualität ablegt oder die Homosexualität, macht doch da eigentlich keinen Unterschied?

Batlogg: Ja, aber Sexualität ist ja mehr als Genitalität. Wir Menschen sind sexuelle Wesen, und Sexualität bedeutet ja nicht nur Geschlechtsverkehr, das bedeutet genauso Umarmung, Zärtlichkeit, das betrifft auch eine ganze Lebenskultur und einen Lebensstil. Und eine Tatsache ist natürlich auch, wie entwickele ich mich als Priester allein lebend in einer Pfarrei oder als Ordenschrist in einer Gemeinschaft. Ich kann nicht ohne Gefühle leben. Ich muss da eine Lebenskultur entwickeln. Und da hapert es eben auch.

Kassel: Wäre nicht die beste Lösung im Grunde genommen die Abschaffung des Zölibats?

Batlogg: Ich glaube nicht, dass die Abschaffung des Zölibats die Lösung wäre. Es sind damit Probleme verbunden, aber es ist auch in vielem eine bewährte Lebensform und ein Zeugnis in unserer übersexualisierten Gesellschaft.

Kassel: Kommen wir zurück auf die Missbrauchsfälle, zum Teil nur Vorwürfe, klar ist ja, am Canisius-Kolleg und anderen Schulen hat es auch tatsächlich Missbrauch gegeben. Strafrechtlich ist da nichts zu machen, das ist ziemlich eindeutig aufgrund der Verjährung, zivilrechtlich wollen es wohl einige versuchen, die meisten Juristen sagen aber auch da, das wird zwecklos sein. Das ist die juristische Seite. Es gibt ja eine moralische. Hielten Sie es für angemessen, wenn die betroffenen Gemeinden, die betroffenen Schulen den Opfern dieser Missbrauchsfälle trotzdem eine Entschädigung anbieten, auch wenn sie juristisch nicht dazu gezwungen werden können?

Batlogg: Das wird jetzt alles geprüft. Die juridische Seite ist die eine, aber auch, wenn etwas juridisch verjährt ist, es gibt eine Verantwortung des Ordens, diese Dinge sind passiert, auch wenn einige dieser Patres mittlerweise ausgetreten sind. Wir bekennen uns dazu, dass wir hier Verantwortung tragen. Wir sind nicht die Besserwisser. Im Moment geht es einfach um Aufklärung. Opfer melden sich bei der Frau Raue, es wird untersucht, den Vorwürfen wird nachgegangen, der Orden tut alles, damit strafrechtlich relevante Dinge den Staatsanwälten zugeführt werden, und wir stehen in der Verantwortung.

Kassel: Andreas Batlogg war das, Mitglied des Jesuitenordens und Chefredakteur der jesuitischen Monatszeitschrift "Stimmen der Zeit". Herr Batlogg, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Batlogg: Danke sehr!
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