Eine Frau, die nie Heimweh hat

Von Eva Raisig · 26.01.2011
Sie kommt aus dem Schwarzwald, später war sie in den USA, England und Japan. Die Schriftstellerin Michaela Vieser bleibt nie lange an einem Ort, ständig zieht es sie in die Ferne. So bewahrt sie sich den Blick für Spannendes und Skurriles.
"Als ich nach Amerika gegangen bin das eine Jahr – ich hatte kein bisschen Heimweh. Und später auch in London, ich hatte nie Heimweh. Ich hatte keine Angst vor der großen Welt."

Die Frau, die nie Heimweh hat, kniet vor dem Couchtisch in ihrer Wohnung in Berlin Mitte. Das sei ein Relikt aus ihrer Zeit in Japan, erzählt die dunkelhaarige Frau mit den strahlenden blauen Augen lachend. Sechs Jahre war Michaela Vieser dort. Ein Ort von vielen im Leben der 38-Jährigen. Seit acht Jahren wohnt die Schriftstellerin jetzt in Berlin. Länger als an jedem anderen Ort seit ihrer Kindheit. Bis sie 17 ist, will die Baden-Württembergerin Weltraumforscherin werden. Doch dann zieht es sie in andere Fernen.
"Mein Onkel hat ne Inderin geheiratet und bei denen war ich viel. Und mit ihr hab ich schon in den 70ern viele Bollywoodfilme angeschaut (lacht). Vielleicht hat das ein bisschen was geöffnet, ich weiß es nicht."

1972 geboren wächst Michaela Vieser in einem kleinen Ort im Schwarzwald auf und muss früh selbstständig werden. Die Mutter arbeitet als Behindertenbetreuerin, der Vater ist Finanzbeamter. Mit 10 kocht sie das Mittagsessen für sich und ihre kleine Schwerster. Mit 16 geht sie als Austauschschülerin in die USA. Es ist der erste Ausflug in fremdes Gebiet. Zurück in Deutschland wechselt sie an eine internationale Schule, macht Abitur und geht mit einem Stipendium nach London, um Japanologie und Kunstgeschichte zu studieren.

"Die Mitstudenten kamen aus kleinen afrikanischen Staaten oder es waren thailändische Prinzen oder Nonnen aus dem Himalaya, also dadurch hatte man schon ein sehr anderes Weltbild als man es hat, wenn man nur in dem kleinen Dorf geblieben wäre, in dem ich war."

Als im dritten Studienjahr das obligatorische Auslandsjahr auf dem Plan steht, entscheidet sich Michael Vieser bewusst gegen den üblichen Weg. Sie verlässt das gewohnte Umfeld, lässt ein Stipendium sausen, geht nicht an eine japanische Hochschule, sondern in ein buddhistisches Kloster.

Um 5 Uhr 30 aufstehen, kniend Sutren singen, Unterricht in Kalligrafie und in Blumenstecken, in Teezeremonie und in Schwertkampf - das ist für Michaela Vieser ein Jahr lang Alltag und prägt sie bis heute.

"Das war ein wahnsinnig intensives Jahr. Es war vor allem intensiv, weil es sich angefühlt hat, als ob jemand die Zeit angehalten hätte für mich. Jeder Tag war gleich. Man wachte morgens auf. Es waren immer die gleichen Personen um einen herum. Der Tagesablauf war gleich. Und ich hatte das Gefühl, dass ich zum ersten Mal im Leben Zeit hatte über alles nachzudenken, was bisher geschehen ist in meinem Leben."

Über ihre Zeit im Kloster hat Michaela Vieser Jahre später ein Buch geschrieben. Es sei bemerkenswert, sagt sie, wie genau sie sich nach all der Zeit an alles erinnern konnte, bis hin zum Muster des Klosterfußbodens.

"Es war alles ganz klar abgespeichert irgendwo im Kopf. Ich musste dann eigentlich nur raus aus meinen Gedanken und das aufschreiben. Ich wüsste nicht, welches Jahr oder welche Begebenheiten in meinem Leben sonst so eine Klarheit hinterlassen haben."

Japan wird ihre Wahlheimat. Sie erforscht die Kunst der Bergasketen. Irgendwann hat sie genug gehabt vom Akademikerleben. Zusammen mit ihrem heutigen Ehemann geht sie nach Tokio, arbeitet in einem Medienunternehmen und entwickelt als junge kreative Deutsche Medienformate für junge kreative Japaner.

"Tokio war dann doch so eine rosa Blase, man hatte lauter tolle, gut aussehende Freunde, die alle wohlhabend waren und spannende Sachen machten, aber Japan ist schon sehr fremd. Jede Party, auf die man geht, ist man erstmal der Ausländer bevor man der ist, der man ist."

Zehn Jahre hat Michaela Vieser zu diesem Zeitpunkt nicht in Deutschland gelebt. Sie will die alte Heimat neu kennenlernen. Gemeinsam mit Reto fährt sie für ein halbes Jahr mit einem VW-Bus durchs Land. Nicht mehr als 20 Kilometer am Tag, keine Autobahn. Es wird eine langsame und eindrückliche Erkundung. "Übersehene Sehenswürdigkeiten" heißt das Buch, das aus dieser Reise entstanden ist und einen ungewohnten Blick auf Deutschland und seine Eigenheiten wirft.

"Diesen Blick für das, was wirklich spannend ist, was skurril ist, was anders ist, hat man vielleicht wirklich nur, indem man so lange woanders war."

Berlin ist die letzte Etappe auf ihrer Reise und der Ort, an dem die beiden ihre Zelte neu aufschlagen. Hier sind auch ihre beiden Kinder geboren. Baldur und Elisabeth. In Berlin beginnt Michaela Vieser schließlich zu schreiben. Vier Bücher sind seither entstanden. Zuletzt mit großem Erfolg "Von Kaffeeriechern, Abtrittanbietern und Fischbeinreißern", ein liebevoll recherchiertes Buch über ausgestorbene Berufe, das sie zusammen mit der Illustratorin Irmela Schautz herausgegeben hat. Das neueste Projekt ist ein historischer Roman.

Ihren geografischen Platz hat Michaela Vieser fürs erste in Berlin gefunden. Der Blick für neue Richtungen und Gegenden ist ihr geblieben: Vor ein paar Monaten hat sie an einer Neuköllner Schule Achtklässler im Schreiben von japanischen Haikus unterrichtet.

"Das Bedürfnis wegzuziehen ist gerade gar nicht da. Ich kann mir aber vorstellen, wenn die Kinder mal aus dem Haus sind und so ein neuer Lebensabschnitt beginnt, dass man dann sehr wohl woanders hinziehen möchte. Aber was es dann sein wird, wie und wo, das weiß ich nicht."