"Eine Frage an den Zuschauer"

Moderation: Matthias Hanselmann · 30.08.2013
Der neuen Film von Philip Gröning erzählt von einer gelingenden Beziehung zwischen Mutter und Tochter und einer zerstörerischen zwischen der Mutter und ihrem Mann. Er wolle keine Antworten geben, sagt Gröning, sondern die Konflikte und Bedürftigkeiten einfach nur zeigen. Er wünsche sich, dass der Zuschauer die eigenen Beziehungen zu Kindern und Partner hinterfragt.
Matthias Hanselmann: Am letzten Mittwoch wurden sie eröffnet, die 70. Filmfestspiele von Venedig. George Clooney und Sandra Bullock sorgten mit dem in 3D gedrehten und außer Konkurrenz laufenden Weltraum-Drama "Gravity" für den Auftakt - für Glamour am roten Teppich war also gesorgt. 20 Filme treten in dem Rennen um den Goldenen Löwen an, mit dabei ist auch ein deutscher Beitrag: "Die Frau des Polizisten" von Philip Gröning.

Heute Nachmittag hat er seine offizielle Weltpremiere. Gröning ist fast schon ein Stammgast beim Filmfestival in Venedig: Er stellte dort seinen Dokumentarfilm "Die große Stille" vor. Er war in der Jury für den Orizzonti-Wettbewerb, und kurz vor seiner Premiere seines neuen Films konnten wir mit Philip Gröning sprechen. Zuvor sagt uns Katja Nicodemus, um was es in diesem Film gehen wird, denn sie konnte ihn gestern schon sehen.

Ich hatte vor der Sendung Gelegenheit, mit Regisseur Philip Gröning zu sprechen, und habe ihn zunächst gefragt, wie er an den Film "Die Frau des Polizisten" herangegangen ist – es gab ja wieder kein Drehbuch.

Philip Gröning: Ich hatte plötzlich diese Idee, was zu machen über einerseits Liebestransfer zwischen Eltern und Kindern als ganz kleine Kinder, und dann parallel war sozusagen gleichzeitig die Idee da, etwas zu machen über eine sehr zerstörerische Beziehung. Und da habe ich sehr viel recherchiert, mit sehr vielen Frauen gesprochen, mit Frauenberatungsstellen und Männerberatungsstellen, mit Männern, die in solchen Beziehungen leben oder gelebt haben. Allmählich hat sich dann doch so verfestigt, der Gedanke, dass das wirklich ein Doppelthema ist, was einfach eine große Tiefe hat. Und dann habe ich angefangen zu schreiben, so Szenenbruchstücke zu schreiben.

Hanselmann: Sie sagen, ein Doppelthema – inwiefern ein Doppelthema?

Gröning: Na ja, es gibt ja die zwei Erzählungen eigentlich: wie diese Mutter dieser Tochter beibringt, zu leben oder den Liebesraum schafft, in dem diese Tochter sich entwickeln kann eigentlich, und es gibt gleichzeitig die Erzählung, wie der Mann diese Frau zerstört. Das sind eigentlich symmetrische Liebes- bzw. Zerstörungstransfere. Und das hat mich interessiert, wie in ganz tiefen, basalen Beziehungen Dinge gelingen können oder auch schiefgehen können.

Hanselmann: Welche Struktur haben Sie für Ihren Film gewählt? Folgen Sie den Ereignissen chronologisch?

Gröning: Der Film ist insgesamt eine Parabel sicherlich, und der Film ist insgesamt vor allen Dingen eine Frage an den Zuschauer, und er wird mehr oder weniger chronologisch erzählt, ja. Aber es gibt halt auch Elemente, die vollkommen aus der Zeit raus sind, also zum Beispiel die Szenen mit den Tieren – die sind ja nicht verortet in der Chronologie der Geschichte. Man weiß nicht genau: Passiert das gleichzeitig, ist das vollkommen getrennte Zeit? Der Zuschauer muss den Film selber wieder zusammensetzen und dadurch, glaube ich, berührt er den Zuschauer anscheinend, sagen mir die Leute, sehr tief.

Hanselmann: Für Ihren Dokumentarfilm "Die Große Stille" haben Sie für einen längeren Zeitraum ja mit Mönchen eines französischen Schweigeklosters zusammengelebt und sie beobachtend durch ihren Alltag begleitet. Arbeiten Sie in Ihrem neuen Film mit einem ähnlich beobachtenden Blick?

Gröning: Ich habe das Gefühl gehabt, dass ich mich nicht als Regisseur drüberstellen kann über die Ereignisse, sondern dass ich diese Ereignisse einfach beobachte, wie Sie sagen, und der Zuschauer selber aufgefordert ist, seine eigene Position dazu zu finden. Das sind Ereignisse oder das sind Fragen, die zu tief gehen, als dass man als einfach als Regisseur sagen kann: Ich habe hier die Antwort, ich kann euch sagen, der ist gut, der ist böse, das hier geht jetzt schief – das wäre wahnsinnig überheblich. Das sind so tiefgehende Konflikte und Bedürftigkeiten, dass ich das Gefühl hatte: Ich will das einfach nur zeigen. Und du als Zuschauer musst sehen, wie ist in deinem eigenen Leben deine Beziehung zu dem, was da erzählt wird?

Hanselmann: Ihr Film ist auch ein Film über häusliche Gewalt. Wenn es zu gewalttätigen Übergriffen kommt, eine Frau immer wieder Angst haben muss, dass ihr Mann gleich zuschlägt, kann es dann überhaupt noch so etwas wie einen sogenannten normalen Alltag geben? Herrscht in diesem Film sozusagen permanenter Ausnahmezustand?

Gröning: Ich habe ja sehr viel recherchiert und es wurde sehr unterstützt von den Frauenberatungsstellen und von eben den Frauen in solchen Beziehungen, auch von Männern, die in solchen Beziehungen waren: Es gibt eben gerade in solchen Beziehungen natürlich auch einen Alltag. Der Alltag wird aufrecht erhalten, das sieht man ja auch in dem Film. Die Aufrechterhaltung des Alltags ist sowohl die Stabilisierung solcher Beziehungen, was fatal ist, als auch das Gegengewicht zu so einer Beziehung. Da wird eben auch ganz normal geweckt und die Kinder in die Badewanne gesteckt oder es wird gegessen, und der Alltag verschwindet nie.

Hanselmann: Worauf legen Sie das Hauptaugenmerk? Interessiert Sie mehr der psychologische Aspekt oder geht es Ihnen eher um die Struktur der häuslichen Gewalt?

Gröning: Die häusliche Gewalt ist erstens, das muss man ganz klar sagen, eine vollkommen fatale und zerstörerische Sache, die man auch überhaupt nicht so hinnehmen kann, auch als Gesellschaft nicht hinnehmen kann. Gleichzeitig ist es ein Ausdruck einer fassungslosen Hilflosigkeit. Da ist die Struktur der Beziehung und die Psychologie dessen, was da passiert, gar nicht voneinander zu trennen. Es ist eben eine wirkliche Beziehung. In wirklichen Beziehungen greifen die Elemente und die Personen ineinander, da ist es nicht einfach, zu sagen: Das und das passiert deswegen. Das wäre immer zu einfach. Was ich eigentlich hoffe, ist, dass der Zuschauer selber sich mit Fragen konfrontiert zur eigenen Rolle gegenüber den eigenen Kindern, gegenüber den eigenen Beziehungspartnern und selber zu einem Urteil kommt.

Hanselmann: Ich könnte mir vorstellen, dass es gerade durch die Darstellung der Gewalt eine besonders schwere Aufgabe für Sie war, mit den kleinen Hauptdarstellerinnen zu arbeiten: Pia Kleemann und ihre Zwillingsschwester Chiara spielen ja beide zusammen die Clara. Wie sind Sie dabei vorgegangen, wie haben Sie die beiden Mädchen vorbereitet?

Gröning: Die wissen natürlich gar nicht, wovon der Film handelt, das wissen die auch bis heute nicht. Die dürfen den Film natürlich auch gar nicht sehen. Also wenn man so was dreht, dann muss man sehr, sehr verantwortlich mit den Kindern umgehen. Da muss man zum Beispiel dafür sorgen, dass die Szenen, wo ganz laut gebrüllt wird zwischen den Erwachsenen oder wo es diese Gewaltsachen gibt, die werden gedreht an Tagen, wo die Kinder gar nicht am Drehort sind, auch nicht im Haus daneben sind.

Umgekehrt ist es so, wenn dieser Moment ist, wo er versucht, die Türe aufzubrechen – es gibt einen Moment im Film, da hat sich die Mutter mit dem Kind ins Schlafzimmer des Kindes geflüchtet oder ins Kinderzimmer und der Mann versucht, die Tür aufzubrechen –, da ist es natürlich so, dass ich dem Kind einfach gesagt habe: Setze dich auf das Bett und der David wird jetzt Geräusche an der Tür machen, und du musst versuchen zu raten, was er da wirklich tut. Du musst versuchen, mir hinterher zu sagen, was er da wirklich tut. Sie wollte irgendwie so ein Prinzessinen-Malbuch oder so haben, ich habe gesagt, wenn du das Richtige herausfindest, was er tut, dann können wir vielleicht irgendwie drüber nachdenken, ob wir dir dieses Malbuch geben.

Und dadurch steht so eine wahnsinnige Intensität in der Darstellung des Kindes. Natürlich ist es nicht, dass das Kind in dem Moment sieht, wie da irgendwie jemand von außen versucht, die Tür aufzubrechen. Ich will ja nicht traumatisierte Kinder nach dem Dreh haben. Und das Kritischste war eigentlich der Moment, wo das Kind die Wunden der Mutter im Badezimmer sieht, wo wir vorher natürlich was gemacht haben, dass wir mit dem Kind auch ins Make-up gegangen sind und gesagt haben: Hier, so schminkt man blaue Flecken, so wie wenn man Pirat wäre und sich einen Blutfleck schminkt und so weiter, jetzt schminken wir dir auch ein paar blaue Flecken und so weiter, damit das Kind weiß, da ist nicht die Schauspielerin geschlagen worden, damit das Kind auch weiß: Hier passiert nichts Schlimmes. Das war mir sehr wichtig.

Hanselmann: Also die beiden Darstellerinnen haben Sie, wenn es auch immer irgendwie ging, verschont. Aber wie geht die Familie im Film mit dieser Gewalt um? Gibt es im Film Worte dafür?

Gröning: Nein, eben nicht. Das ist ja fast immer so. Da, wo es Worte gibt, ist die Gewalt vielleicht nicht notwendig oder da findet sie vielleicht nicht statt. Es gibt keine Worte. Der Film ist ja auch ein Film, wo die beiden Erwachsenen miteinander fast gar nicht in dem normalen Sinne sprechen. Das ist halt auch eine Sprachlosigkeit, die dort herrscht. Und das ist, glaube ich, sehr stark die Realität solcher Beziehungen.

Hanselmann: Welche Rolle spielt eigentlich der Schauplatz, also eine deutsche Kleinstadt irgendwo in der Provinz?

Gröning: Die Kleinstädte sind einerseits ein sehr deutsches Phänomen. Andererseits, natürlich gibt es die überall auf der Welt, aber man sieht, dass das Deutschland ist, in den Kleinstädten vielleicht am stärksten, und die Kleinstädte sind ja Orte von bedingungsloser Harmoniesucht und gleichzeitig sozialer Kontrolle und sozialem Druck. Und es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Wunsch danach, dass alles perfekt sein solle, und dem Abgleiten in manchmal eben auch gewalttätige Beziehungen. Und das, fand ich, war in dieser kleinen Stadt Stadtlohn sehr gut zusammengefasst.

Hanselmann: Herr Gröning, einmal weg von Ihrem Film: Sie waren ja nun häufiger in verschiedenen Funktionen am Lido. Sie waren Mitglied in der Jury, haben Ihren Film "Die Große Stille" vorgestellt. Was ist das Besondere für Sie an diesem Festival in Venedig?

Gröning: Ach, das ist ein ganz tolles Festival, weil es halt wirklich um Filme als Kunst geht und zwar auf einem großen, hohen Niveau. Und ich wollte immer schon, als ich angefangen habe, Filme zu machen, ich wollte immer schon ein Film hier im Wettbewerb haben und freue mich wahnsinnig, dass es jetzt so weit ist. Das macht mich einfach sehr froh.

Hanselmann: Es sind nur noch wenige Stunden bis zur Premiere Ihres Films in Venedig. Sie sagen, Sie sind froh – schwingt da auch Aufregung mit, Nervosität?

Gröning: Absolute Nervosität natürlich, wobei die sogar ein bisschen zurückgedrängt dadurch wird, dass ich ja im Moment gerade in den Dreharbeiten von dem nächsten Film bin, also gestern noch bis nachmittags gedreht habe, dann hierher geflogen bin und auch gleich am Montag weiterdrehen muss. Insofern habe ich zum Glück etwas, was mich von der Nervosität ablenkt. Aber die Vorstellung, jetzt da gleich mit 1000 Leuten drin zu sitzen, ist natürlich großartig und furchtbar zugleich.

Hanselmann: Regisseur Philip Gröning kurz vor der Weltpremiere seines Films "Die Frau des Polizisten". Wir wünschen natürlich viel Erfolg in Venedig und anderswo!


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