Eine Biografie pünktlich zu zwei Jubiläen

Von Rolf Schneider. · 28.05.2012
Er gilt als der Erfinder des modernen Ichs: der Philosoph Johann Gottlieb Fichte. Der Philosophie-Professor Wilhelm G. Jacobs zitiert in seiner Biografie reichlich aus Selbstzeugnissen Fichtes und Aufzeichnungen von Zeitgenossen, rekapituliert Fichtes Ideen und bleibt dabei angenehm lesbar.
"Just zu den beiden großen Fichte Jubiläen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, dem 250. Geburtstag 2012 und dem 200. Todestag 2014, ist es nun endlich möglich, in einer seit langem überfälligen großen, umfassenden Biografie das Bild eines der bedeutendsten deutschen Philosophen von Übermalungen und Entstellungen zu befreien."

So Wilhelm G. Jacobs in der Einleitung zu seinem Buch über Johann Gottlieb Fichte. Der Autor vom Jahrgang 1936 hat eine Professur für Philosophie inne an der Universität München, seine Spezialität ist der Deutsche Idealismus. Er hat über Schelling gearbeitet, er ist Mitherausgeber einer Fichte-Edition, eine eher populäre Monografie über Fichte aus seiner Feder gibt es bereits.

Idealismus: Das meint jene Lehre, der die reale, die dingliche, die uns umgebende und sinnlich erfahrbare Welt nicht aus sich heraus existiert, vielmehr als Abglanz eines abstrakten Urplanes, eben einer Idee, welche die dingliche Welt durchwirkt und deren Erkenntnis wir uns annähern können, ohne sie je ganz zu erreichen.

Ältester Vertreter dieser Philosophie ist der Sokrates-Schüler Platon, für das neuzeitliche Europa hebt sie an mit René Descartes und Pierre Bayle; beide gehören ins Umfeld der Aufklärung. Dies weist den modernen Idealismus als einen Versuch aus, sich von der christlichen Theologie mit ihren Dogmen zu entfernen. Dass hinter alledem immer noch der alte Schöpfergott zu erkennen ist, der manchmal sogar aufgerufen wird, bleibt unverkennbar.

Auch die deutschen Idealisten kommen gerne von der Theologie her, wofür Fichte ein Beispiel ist; erste prägende Figur freilich wird der ausgebildete Naturwissenschaftler Immanuel Kant, der die Vernunft zum entscheidendes Erkenntnismittel ausruft.

"Die Umwälzung (...), die Kant in der praktischen Philosophie vollbracht hatte, übertraf noch bei weitem die in der theoretischen" so Wilhelm G. Jacobs.

Aufklärung und Idealismus bleiben einander verbunden, noch bis in die Französische Revolution hinein, was sich an Robespierres parareligiösem Kult des Höchsten Wesens ablesen lässt. Erst das 19. Jahrhundert kappt alle deistischen Rückbezüge; Materialismus, Positivismus, Nietzsche und Existentialismus rücken zu prägenden philosophischen Schulen auf und blieben das bis heute. Lediglich die immer wiederkehrende Rückbesinnung auf Kant und auf Hegel steht dem entgegen.

Jacobs spart solches Panorama aus. Er konzentriert sich völlig auf Leben und Lehre des Johann Gottlieb Fichte. Der, 1762 geboren, war ein Kleine-Leute-Kind aus der sächsischen Oberlausitz, bekam Förderung durch einen wohltätigen Aristokraten, wurde Alumne in Schulpforta bei Naumburg und begann ein Theologiestudium, das er freilich nicht abschloss. Dafür wurde er Hauslehrer bei allerlei begüterten Familien zwischen Zürich und Warschau.

Seine erste große Veröffentlichung galt Immanuel Kant, die sehr beachtet wurde. Jacobs:

"Fichte ist (...) mit einem Mal einer der wichtigsten philosophischen Schriftsteller im deutschen Sprachraum."


Er erhielt einen universitären Lehrstuhl in Jena, wo ihm ein großes Publikum zulief und wo er schließlich mit der Obrigkeit in existentiellen Konflikt geriet. Er ging nach Preußen, lehrte zunächst an der Universität Erlangen und schließlich, ab deren Gründung, an der Universität Berlin, wo er auch erster Rektor war. 1814 verstarb er an einer Infektion.

Er war, was Biograf Jacobs so nicht sagt, sich den vorgetragenen Fakten freilich entnehmen lässt, eine störrische Natur, rechthaberisch und zänkisch; mit fast allen Freunden und Förderern zerstritt er sich, ein Trinker war er wohl außerdem. Seine akademischen Vorlesungen und Vorträge müssen eindrucksvoll gewesen sein, bei übrigens wechselnder Nachfrage; seine Bücher wurden geschäftliche Erfolge. Er stand in Verbindung mit allen wichtigen Figuren der Weimarer Klassik und des klassizistischen Berlin, sein Einfluss auf Zeitgenossen, zumal auf die literarische Frühromantik, war erheblich. Dabei zeigte er sich an Schöngeistigem nur mäßig interessiert, und anders als Kant oder Hegel brachte er es zu keiner ausformulierten Ästhetik.

Seine Schriften sind teils erkenntnistheoretischen, teils ethischen Inhalts. Die philosophischen Bemühungen um die menschliche Individuation, um das Phänomen des Ich, von Zeitgenossen manchmal belächelt, nehmen manch Späteres vorweg.

Er war ein Geschichtsoptimist und glaubte an eine allmähliche Vervollkommnung der menschlichen Gesellschaft, er war, unter dem Eindruck der französischen Ereignisse, überzeugt vom Nutzen der Demokratie, gar der Republik, er forderte Gedankenfreiheit und dachte über eine Weltregierung nach; Zeitgenossen nannten ihn einen Robespierre der Metaphysik.

Seine Bewunderung der Französischen Revolution reicht über die Epoche der Schreckensherrschaft hinaus, erst die Eroberungen Napoleons lassen ihn umkehren. Seine dreizehn "Reden an die deutsche Nation", erschienen 1808, gehören zu den großen patriotischen Texten, die im Vorfeld der Befreiungskriege entstanden.

Dies alles legt Jacobi ausführlich dar. Er ist ein guter, ein angenehm lesbarer Autor. Aus Selbstzeugnissen Fichtes und Aufzeichnungen von Zeitgenossen zitiert er reichlich, rekapituliert eingehend die Inhalte von Fichtes Philosophie, auch Kant wird ausführlich interpretiert, was alles die Lektüre etwas spröde machen kann, notwendigerweise.

"Fichte findet (...) eine Analyse der Willkür¬freiheit. Zu dieser gehört notwendig das Wissen um sie. Wer frei ist, weiß um seine Freiheit, und wer um seine Freiheit weiß, ist frei. Freiheit aber ist, indem sie sich vollzieht. Beides, das Wissen um die Freiheit und deren Vollzug, gehören zusammen; das eine ist die Voraussetzung des anderen. "

Dies ist erhellend zu lesen, wenn man weiß, dass im Berliner Schloss Bellevue ein Bundespräsident namens Joachim Gauck amtiert.

Sonderbarerweise geht Jacobi auf Fichtes Verhältnis zu den Juden nicht ein. Der Philosoph wird gemeinhin unter die Erzväter eines säkularen, eines nichtreligiös begründeten Antisemitismus gezählt, der für die Deutschen im Zeitalter der Frühromantik begann. Fichte bewegte sich im judenfeindlichen Milieu der Deutschen Tischgesellschaft, zwar, verglichen mit den antisemitischen Äußerungen seiner Zeitgenossen Ernst Moritz Arndt und Friedrich Ludwig Jahn sind die seinen eher sparsam und wirken zurückgenommen, vorhanden sind sie gleichwohl.

"Fast durch alle Länder von Europa verbreitet sich ein mächtiger, feindselig gesinnter Staat, der mit allen übrigen im beständigen Kriege steht, und der in manchen fürchterlich schwer auf die Bürger drückt; es ist das Judentum."

Die Antisemiten des 19. und 20. Jahrhunderts haben solche Auslassungen begeistert aufgenommen und brutal verstärkt. Dass Fichte manch guten jüdischen Bekannten hatte, dass er die Haskala, die jüdische Aufklärung, kannte und schätzte, dass er sich in Berlin für einen jüdischen Studenten einsetzte, worüber er übrigens sein Rektorat verlor, wurde lieber verschwiegen.

"Sein Denken wird in den Dienst von Nationalismus und Nationalsozialismus gestellt, genauer: es wird gar nicht als Denken wahrgenommen, sondern zu Zwecken missbraucht, gegen die Fichte zeitlebens gestritten hat."

So Wilhelm C. Jacobs. Er fügt hinzu:

"Fichte erscheint endlich als der, der er ist (...) Jetzt erst lässt sich Fichtes Denken ganz übersehen und in seiner Bedeutung erfassen, eine Aufgabe für die Zukunft."

Wilhelm G. Jacobs: Johann Gottlieb Fichte – Eine Biografie
Suhrkamp Verlag 2012

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