Eine Ahnung von Glück

22.02.2007
Der neue Erzählband von Ingo Schulze verbindet das Zeitgefühl der Gegenwart mit der überkommenen Form von Lesebuchtexten. Sein Material ist das Aufeinanderprallen von Ost und West. In der Titelgeschichte "Handy" mutiert das Gerät vom Zeichen des Fortschritts zu dem der Fremdbestimung. Oft bleibt etwas Unheimliches zurück, manchmal auch eine Ahnung von Glück.
Dass jetzt ein neuer Erzählband des hochgelobten Autors Ingo Schulze erscheint, verblüfft zunächst ein wenig: auf seinen Roman "Neue Leben" vom Herbst 2005 hatte das Publikum fast acht Jahre lang warten müssen. Ingo Schulze ist für seine Akribie, für sein langsames, behutsames Arbeiten und Feilen an den Texten bekannt. Der Untertitel seines neuen Buches "Handy" weist darauf hin: "Dreizehn Geschichten in alter Manier" – das ist seinem bescheidenen, fast ein bisschen selbstironischen, aber auch kostbaren Gestus eine Camouflage, die typisch für Schulze ist. Dieser Autor, von dem man den großen Zeitroman in den neunziger Jahren am dringlichsten erwartete – Günter Grass hat ihn ganz offiziell zu seinem Nachfolger auserkoren – hat es auf eine listige und raffinierte Weise immer umgangen, auf den großen Roman festgelegt zu werden und verschiedene Kleinformen ausprobiert. Geschichten sind sein ureigenes Genre, die kurze Prosa. Er hat sie aber schon in seinen berühmten "Simplen Storys" zu einem Kaleidoskop ausgebaut, in dem man durchaus ein gesellschaftliches Panorama erkennen konnte, und sein Briefroman "Neue Leben" ist zwar äußerst umfangreich, aber eben ein Roman in Briefen. Die dreizehn Geschichten in "Handy" zeigen Schulze nun ohne Tarnung in seinem ureigenen Genre.

Sechs dieser Texte sind im Lauf der letzten Jahre an zum Teil auch entlegenen Orten bereits erschienen, doch sie als bloße Gelegenheitstexte abzutun, wäre voreilig. Im Zusammenklang all dieser dreizehn Geschichten zeigt sich Schulzes Fähigkeit, das unmittelbare Zeitgefühl der Gegenwart mit der überkommenen Form von Lesebuchtexten zusammenzubringen, und das ist ein höchst ungewöhnliches und riskantes Unterfangen. Denn es geht auf der kurzen Strecke – das klassische Muster der Short Story sind ja die Geschichten Hemingways – darum, wirklich einen prägnanten, überraschenden Punkt zu erwischen, etwas, das in Erinnerung bleibt, ohne dass es gleich eine nacherzählbare Pointe sein muss. Genau dies hat sich Schulze hier vorgenommen, und deshalb unterscheiden sich seine Texte von den Alltagsbeschreibungen, der Zeitdiagnostik der deutschen Gegenwartsliteratur um sie herum.

Schulzes Gegenwartsmaterial ist das Aufeinanderprallen von Ost und West, und er schildert dies immer aus der Perspektive des Ostdeutschen. Dies ist aber mittlerweile so selbstverständlich geworden, dass es gar nicht mehr eigens als Thema ausgestellt werden muss: in einem kleinen Halbsatz, in einem unscheinbaren atmosphärischen Detail kann es plötzlich an die Oberfläche treten, so in der Geschichte "Berlin Bolero" – eine unheimlich anmutende Szenerie im neuen Spekulations-Berlin, auf den ersten Blick nur eine Paar-Geschichte, aber unversehens eine große Allegorie.

In der Titelgeschichte "Handy" ist eine alltägliche Erfahrung der Ausgangspunkt: dass ein Gerät wie das Handy, Ende der neunziger Jahre noch eher ungewohnt, zunächst als großer Fortschritt erscheint, aber dann als Zeichen von Fremdbestimung, als Entfremdung wahrgenommen werden kann. Schulze macht niemals solche großen Worte, seine Geschichten spielen sich in Andeutungen ab, im Atmosphärischen, im Vagen, obwohl sie so konkrete, realistische Umrisse zu haben scheinen. Es bleibt etwas Unheimliches zurück, manchmal aber auch eine Ahnung von Glück.

Rezensiert von Helmut Böttiger

Ingo Schulze: Handy - Dreizehn Geschichten in alter Manier.
Berlin Verlag, 280 Seiten, 19,80 €