Einblicke

Schreiben über das Scheitern

Von Gerd Brendel · 28.01.2014
"Es gibt eine Milliarde Inder – da gibt es bestimmt einen, der weiß wie man fliegen kann", sagt der indische Schriftsteller und Journalist Raj Kamal Jha. Er muss es wissen. In seinen Romanen erzählt er von den Träumen seiner Protagonisten über ihr tragisches Scheitern im indischen Alltagschaos. Gerd Brendel traf den Autor in seinem Wohnzimmer in Delhi.
"Alles, was in diesem Moment zählt ist, bist Du mein kleines Kind und alles, was ich in diesem Moment will, ist ein wenig Stille, damit Du ungestört schlafen kannst und ich diese Geschichten zuende bringe."
Nachts in einer Wohnung irgendwo in Kalkutta: Ein Mann allein mit einem Kind. Die Mutter des Kindes, seine Schwester, lebt seit ein paar Stunden nicht mehr. Am Morgen wird der Erzähler den Säugling ein letztes Mal sehen. Aber jetzt wird er eine Nacht lang die Geschichte seiner Familie aufschreiben. So beginnt der erste Roman von Raj Kamal Jäh "Das blaue Tuch". Die nächtliche Schlaflosigkeit teilt der Ich-Erzähler mit seinem Erfinder Raj Kamal Jha.
"Mein Drang zu schreiben hat mit meiner Schlaflosigkeit zu tun, schon als Kind lag ich nächtelang wach und habe mir Geschichten ausgemalt."
Bis heute denkt sich Raj vor allem nachts Geschichten aus, tagsüber arbeitet er als Journalist. Nur heute Abend wird er eine Schlaftablette nehmen. Eigentlich waren wir zum Interview in seiner Redaktion im Zentrum von New Delhi verabredet gewesen. Aber jetzt liegt er mit einem Bandscheibenvorfall auf dem Sofa in seiner Wohnung in der Satellitenstadt Gurgoan.
Man merkt, wie schwer ihm die verordnete Bettruhe fällt. Immer wieder richtet er sich auf, schüttelt seine Afromähne und spielt mit seiner Brille. Auch mit Mitte 40 wirkt Raj Kamal immer noch wie ein frisch gebackener College-Student. Dabei ist es über 20 Jahre her, dass der Sohn eines College-Professors im Indian Institute of Technology bei Kalkutta sein erstes eigenes Zimmer bezog.
"Zum ersten Mal musste ich mein Zimmer nicht mit meinen Geschwistern teilen. Ich konnte aufbleiben, lesen und schreiben und meine Schlaflosigkeit erblühte wie eine Blume."
Geschichtenschreiben als Beruf
Tagsüber studiert Raj Kamal an der Elitehochschule Maschinenbau, auf Wunsch seines Vaters. Erst nach dem Abschluss kann er sein Wunschfach studieren: Journalismus.
"Weil das der einzige Beruf ist, in dem man Geschichten erzählt bekommt und Geschichten erzählen kann."
Mit einem Stipendium geht er an die University of Southern California nach L.A. Nach Studium und Volontariat in den USA kehrt Raj zurück und wird Redakteur beim renommierten "Statesman" in Kalkutta. Aber etwas fehlt dem jungen Journalisten:
"Ich fand heraus, dass man als Reporter eben nicht alle Geschichten erzählen kann, Geschichten, die sich in den Köpfen der Menschen abspielen, für die es keine Quellen und keine Belege gibt."
Zum Beispiel die Geschichte einer Familie , wie sie Raj in seinem ersten Roman "Das blaue Tuch" von 1998 erzählt.
"Damals wurde die indische Familie überall als Modell angepriesen. So viele Generationen unter einem Dach. Aber das entsprach nicht meinen persönlichen Erfahrungen und dem, was ich als Reporter erlebte: Nie sprach jemand über die Gewalt in den Familien, über Missbrauch von Frauen, von Kindern, von Dienstboten. Auch wenn es keine physische Gewalt in meiner Familie gab, lebten wir nach einer starren Hierarchie. Noch heute isst meine Mutter als letzte."
Geschichten über Geschichte
Vier Jahre später, Raj Kamal hat mittlerweile zum liberalen "Indian Express" gewechselt, beginnt er mit seinem dritten Buch. Eine Erzählung aus dem blutigsten Kapitel der neueren indischen Geschichte: Ausgelöst durch Hindu-Nationalisten erreichte die Gewalt zwischen Muslimen und Hindus Gujarat ihren blutigen Höhepunkt.
"Im Jahr 2002 wurden allein nach offiziellen Angaben 800 Muslims umgebracht und das im Bundesstaat Gujarat, dem Baden-Württemberg von Indien."
Damals berichtete Raj für seine Zeitung vor Ort.
"Wir brachten hunderte von Berichten, aber was fehlte, waren Geschichten von individueller Schuld. Dafür brauchte es einen Roman."
Das Buch beginnt zwei Monate nach dem Pogrom in den Ruinen eines gebrandschatzten Wohnblocks.
"In den Ruinen fand ich zum Beispiel ein Englisch-Schulbuch. Ich stellte mir vor, dass es einem Kind gehörte, dass umgekommen war. Und die einzige Möglichkeit, dieses Kind und sein Schulbuch wieder zusammen zu bringen, war dieses Buch."
"Fireproof" - auf Deutsch: "Die durchs Feuer gehen" verknüpft die fiktiven Biografien des Jungen und der ermordeten Bewohner zu einer Parabel über Leben, Tod und verdrängter Schuld.
Im Wohnzimmer der Familie Jha in Gurgaon ist es Nachmittag geworden. Irgendwann hat das Hausmädchen Tee und Gebäck gebracht. Niemand hat sie bemerkt. Jetzt kommt Kamals Frau Sujata mit dem kleinen Sohn ins Wohnzimmer und erinnert ihren Mann an seinen Termin beim Orthopäden.
Eine letzte Frage: Kann man mit Schreiben die Welt verändern? Der Schriftsteller und Journalist überlegt zum ersten Mal länger und dann erzählt er von einem Korruptionsskandal, den seine Zeitung neulich aufgedeckt hat. Am Ende musste der Justizminister zurück treten. Romane wirken subtiler. Raj Kamal wäre schon froh, wenn seine Bücher, dem einen oder anderen Leser eine schlaflose Nacht bereiten würden.