Einblicke in die menschliche Motorik

Von Gerrit Stratmann · 31.08.2009
Gehen, Greifen, Bewegen - das sind die Schwerpunkte einer neuen Ausstellung, die die Medizintechnik-Firma Otto Bock in einem eigens gebauten Science Center im in Berlin zeigt. Auf 500 Quadratmetern können die Besucher die Wunder der menschlichen Motorik erleben und neueste Entwicklungen aus dem Bereich Bionik und Prothetik kennenlernen.
Mitten in Berlin erhebt sich zwischen Brandenburger Tor und Potsdamer Platz ein kubischer Bau, dessen Glasfassade von breiten, geschwungenen Bändern aus weißem Aluminium eingefasst wird. Die organisch fließenden Linien der Außenhaut sollen an die Struktur von Muskelfasern erinnern, womit sich Form und Inhalt des Gebäudes bestens ergänzen, denn auf der kostenlosen Ausstellung im Innern dreht sich auf drei Etagen alles um Bewegung und Mobilität.

"Das Schöne für den Besucher ist, dass letztlich kein einziges Exponat von der Stange ist, sondern jede einzelne Inszenierung eigens erdacht wurde, das Produkt designed wurde, das Möbel, die Gestaltung, die Programmierung, die Inhalte, die Texte, die Filme. Das heißt, das ist wirklich ein einzigartiges Besuchererlebnis. Man kann also herrlich durch diese Ausstellung flanieren und sehr viel entdecken."

Sebastian Peichl von der Agentur Art + Com hat die Ausstellung in diesem neuen Science Center Medizintechnik für und in Zusammenarbeit mit der Firma Otto Bock entworfen. Otto Bock ist ein Spezialist für Rollstühle und Prothesen. Bei Gründung der Firma im Jahre 1919 wurden starre Prothesen noch aus Holz und Leder gefertigt. Heute besteht das modernste künstliche Bein der Firma aus Stahl und Karbon und besitzt einen eingebauten Chip. Die High-Tech Prothese kann der Besucher auf einem Laufband selber in Bewegung setzen.

"Solch eine Prothese ist mikroprozessorgesteuert – da ist ein Kniewinkelsensor drin, der die Kniewinkelgeschwindigkeit misst, und dann haben wir hier auch einen Sensor, der mit einem Messband am Fußknöchel verbunden ist – und der verrechnet quasi einmal die Werte aus dem Fußknöchel und einmal aus dem Kniewinkel. Und so wird bei jedem Schritt neu errechnet, wie es sein muss, den nächsten Schritt zu wagen."

Nicht nur die Technik, auch das Erleben des Besuchers steht im Mittelpunkt der Ausstellung. Mitlaufen, anfassen, steuern, Informationen abrufen – fast jedes Exponat lädt dazu ein, selber aktiv zu werden.

"Selber aktiv werden heißt, dass Sie zum Beispiel auf einer Bodenprojektion auf einem dünnen Seil in 300 Meter Höhe über den Potsdamer Platz balancieren können. Sie können sich in einen Rollstuhl setzen mit einer komplexen Hydraulik und sind in der Lage virtuell über den Pariser Platz durch das Brandenburger Tor mit einem Rollstuhl zu fahren. Wir können an einer anderen Station einen Drachen steuern oder wir können einen Faden durch ein Nadelöhr fädeln, um wirklich zu lernen, wie diffizil unsere Finger sind und wie schwierig es ist, derartige Dinge zu vollbringen."

Das weiß niemand besser als Hans Dietl. Der Chefingenieur von Otto Bock beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit den Mechanismen des Gehens und Greifens. Trotz aller Fortschritte bei der Entwicklung stoßen die technischen Hilfsmittel für gehandicapte Menschen aber immer noch an Grenzen.
"Natürlich gibt’s Grenzen. Wenn man im Bereich Rehabilitation tätig ist, ist man immer sehr demütig gegenüber dem, was die Natur leistet."

Wie perfekt die Natur unsere Gliedmaßen geformt und für ihre Aufgaben ausgestattet hat, lässt sich im Dark Room der Ausstellung eindrucksvoll nachvollziehen. Dort legt der Besucher seinen Arm in eine flache Tischmulde, während ein Beamer wahlweise die 27 Knochen oder 33 Muskeln einer Hand auf seine Haut projiziert. Derart filigran wie das natürliche Vorbild lässt sich noch keine Prothese steuern. Obwohl man in der sogenannten Bionik, einem Kunstwort aus Biologie und Technik, versucht, solche biologischen Steuerungsmechanismen technisch nachzubilden.

"Bei Prothesen ist ein ganz wichtiges Thema auch die Schnittstelle zwischen Körper und technischem Gerät, also wie ich Lasten übertragen kann, wie ich Biosignale weitergeben kann, das sind die kritischen Aufgabenstellungen dabei."

Für Hans Dietl ist die Kluft zwischen Forschung und Anwendung in der Prothetik kleiner als in vielen anderen Bereichen. Deshalb rückt der Traum, einen künstlichen Arm genauso steuern zu können wie einen echten – nämlich durch die eigenen Gehirnsignale – für manche Patienten auch langsam in greifbare Nähe.
"Er denkt einfach nur daran, diesen Phantomarm, sage ich mal, zu benutzen, und dadurch gehen die Signale vom Gehirn in den Muskel. Diese Muskelsignale werden abgenommen, verstärkt und durch eine Software übersetzt in diese kontrollierte Bewegung. Ich sag immer, meine Vision ist die, dass der Patient oder der User vergisst, dass er behindert ist. Das ist die Utopie. Und der versucht man, sich anzunähern. Heutige Systeme, durch die eingebaute Sensorik, ermöglichen dem Patienten, dass er sich nicht ständig aufs Gehen konzentrieren muss, so wie Sie und ich. Und das ist ein Riesenunterschied, der unheimlich viel Lebensqualität und Sicherheit bietet."

Obwohl das Thema Behinderung im Alltag oft ausgeblendet wird, haben bislang fast 500 Besucher täglich die Ausstellungsräume besucht, darunter nicht nur viele Behinderte, die sich über die neuesten Entwicklungen informieren, sondern auch Ingenieure, die aus dem Aufbau des menschlichen Fußes etwas für den Brückenbau lernen wollen. Sebastian Peichl ist mit der Resonanz bisher sehr zufrieden:

"Es ist wirklich sehr erfreulich, dass wir sehr positives Feedback haben auf diese Ausstellung bisher, und die Leute immer mit einem Strahlen aus dieser Ausstellung gehen, weil sie wirklich einen Erkenntnisgewinn haben, und darum geht es eigentlich. Wirklich einen Mehrwert zu schaffen, Wissen zu vermitteln, rauszugehen, etwas gelernt zu haben."