Einblick ins Kunst-Labor eines Stars

Von Thomas Senne · 21.10.2013
Er zählt zu den gefragtesten Künstlern unserer Zeit. Jetzt ist die exakt 100. Schau Richters in München zu sehen. Der Titel der Ausstellung, die gleichzeitig die letzte ist, die der scheidende Direktor des Lenbachhauses organisiert hat: "Gerhard Richter: Atlas – Mikromega".
Tausende von Fotografien und Zeitungsausschnitte, zahllose Skizzen, Collagen oder Entwürfe – dieser "Atlas" ist ein Mammutwerk, das Gerhard Richter jetzt im langgestreckten Ausstellungsraum präsentiert: genau 802 Tafeln, ein gigantisches Sammelsurium, fein säuberlich hinter Glas gerahmt. Sehr zur Freude von Helmut Friedel, dem scheidenden Direktor vom Münchner Lenbachhaus:

"Der Atlas ist die künstlerbiographische Arbeit von Gerhard Richter, die er seit 1962 bis heute fortführt. Anhand des Atlas kann man eigentlich sehen, mit welchen Bildmotiven, welchem Bildvorrat sich Gerhard Richter befasst hat, und erkennt daraus auch, wie seine Werke in der Chronologie entstanden sind."

Und dann ist sie plötzlich da, die Hauptperson, auf die alle gewartet haben: Gerhard Richter, einer der höchstdotierten lebenden Künstler der Welt. Im schwarzen Outfit steht er bereitwillig einer Schar ausgewählter Journalisten Rede und Antwort. Zwar leise nur und in äußerst knappen Sätzen, immer aber bescheiden und unprätentiös. Gewöhnlich gibt dieser Maler seit Jahren keine Interviews mehr. Nun spricht er über seinen "Atlas".

"Ich bin glücklich, dass er hier ist, dass es jemanden gibt, der es sehen will, das Zeug. Ich sammle ja nicht mein Zeug. Ich bin überhaupt kein Sammler. Ich bin froh, dass es raus ist. Muss ja raus sein. Wär’ schrecklich, wenn es zu Hause im Lager wäre. Dann existiert’ s auch nicht."

Wolken- und Pflanzenstudien oder aus der Vogelperspektive abgelichtete Städteansichten sind als Motivblöcke im Atlas vorhanden, aber auch Porträtfotos, auf denen schon mal ein verschwommener Mao Tse Tung oder ein charismatischer Mahatma Gandhi zu entdecken sind: Politikonen als Kürzel für einen historischen Zeitabschnitt.

Besonders interessant: Auf den Atlastafeln enthaltene Vorstudien zu einer großen Glasarbeit für den Eingangsbereich des Berliner Reichstagsgebäudes. 1999 wurde das über 20 Meter hohe Werk "Schwarz, Rot, Gold" installiert: eine aus drei abstrakten Farbflächen stilisierte Nationalflagge aus emailliertem Glas. Die Skizzen, die Richter dazu anfertigte, zeigen jetzt, wie er um einen adäquaten künstlerischen Ausdruck mit sich gerungen hat. Bilder von KZ-Häftlingen wurden ebenso verworfen wie pornografische Sequenzen.

Unscharfe Fotos zeigen Protagonisten der sogenannten "Rote Armee Fraktion", Aufnahmen, die offenbar als Vorlagen für in Grisaille-Technik ausgeführte Bilder dienten. Die "bleierne Zeit" und der RAF-Terrorismus als große Kunst? Richters Begründung:

"Das war ein wichtiges Thema, das ich überhaupt auf die geflogen bin. Die haben mich immer beschäftigt. Fassungslosigkeit klar, ja. Unsinn, wie die gedacht haben, wie man die Gesellschaft so verändern kann, welche Mittel. War alles schrecklich!"

Um nicht vordergründig die Sensationslust der Betrachter zu unterstützen, wählt Richter bei der Umsetzung von heiklen Themen in seinen Werken gerne die Methode der Unschärfe: Arbeiten, von denen er manche als ästhetische Kommentare zur Gesellschaft, zum politischen Geschehen, versteht.

"Es bewegt einen ja. Deswegen gibt man sich damit ab und versucht da irgendwie das ins Bild zu bringen. Meistens geht’ s nicht, aber wer weiß, vielleicht doch noch."
Drucke, Wollteppiche in Jacquard-Technik mit abstrakten Motiven, Cibachrome-Fotografien oder aus bunten Papierstreifen zusammengesetzte "Strip"-Collagen, eine der letzten Atlas-Studien aus dem Jahr 2010, demonstrieren in der Münchner Schau die Vielseitigkeit dieses Künstlers. Überraschend auch die präsentierten dreidimensionalen Werke: etwa eine schlichte Glasscheiben-Skulptur mit einem Hauch von Immaterialität oder drei Museums-Modelle für die Kunst des Meisters höchstpersönlich. Architektur-Projekte, die bereits realisiert werden?

"Im Falle von Japan ja. Da gibt’ s einen Architekten, der würde das bauen, wenn die das Geld auftreiben. Es ist denkbar, wär’ schön."

Die Ausstellung gibt einen einmaligen Einblick in das Kunst-Laboratorium Gerhard Richters, lässt einen dessen Werke besser verstehen und ist für Anhänger seiner Kunst ein Pflichttermin, weil die Hintergründe der kreativen Umsetzung von Themen hier deutlich werden wie sonst nie. Und der "Atlas"? Eigentlich sollte der mit dieser Präsentation beendet sein. Vielleicht aber auch nicht, wie die abschließende, etwas sybillinische Äußerung des 81-jährigen nahelegt.

"Wenn ich Glück hab’, geht’ s weiter."
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