Ein Zugang zur nationalen Seele Polens

Rezensiert von Arkadiusz Luba · 29.03.2013
Nach Jahrhunderten der Fremdherrschaft wurde die Literatur im Polen der Zwischenkriegszeit stark politisch. Es ging um eine neue Gemeinschaft, ein gemeinsames Nationalgefühl. Isabelle Vonlanthen analysiert die nationalen Rituale und Symbole, die in den literarischen Texten dieser Zeit eine Rolle spielten.
Ein Buch über die national engagierte Lyrik und Publizistik im Deutschland der Nazizeit würde sich von selbst erklären. Aber eines über dieses Thema im Polen der Zwischenkriegszeit?

"Ich finde es spannend, wenn eine Gesellschaft dabei ist, wie jetzt, sich zu spalten, vielleicht mal nach hinten zu schauen, um zu merken, wo gewisse Dinge herkommen, wie man vielleicht auch dann miteinander darüber reden könnte, weshalb man gewisse Muster wiederholt, oder weshalb wer welche Position annimmt."

... antwortet Isabelle Vonlanthen.

"Ich denke, es ist sicher einfacher als Schweizer Forscherin zu diesem Thema zu forschen als als deutscher Forscher, weil einfach die historischen Empfindlichkeiten kleiner sind und weil man auch vielleicht mit größerer Leichtigkeit von außen auf so ein heikles Thema schauen kann."

Das heutige Polen ist wie Lava. Von oben sieht es solide und gefestigt aus, doch darunter brodelt es. Im April 2010 beispielsweise, als der polnische Präsident Lech Kaczyñski bei einem Flugzeugabsturz zu Tode kam, wurde die polnische Gesellschaft teils geeint, teils gespalten. Denn er war auf dem Flug ins russische Katyñ, um des Massakers an polnischen Offizieren im Jahre 1940 zu gedenken. Der Unfall zeigte, wie intensiv nationale Rituale und Symbole wirken.

Sich sehnende Nation, sagt, wo ist Eure Heimat?!

… fragt das lyrische Ich im Gedicht von Konstanty Ildefons Ga³czyñski, einem der führenden polnischen Dichter, dem begnadeten Satiriker und Pamphletist zwischen den beiden Weltkriegen.

Eine Freiheit, die nicht befreite
Dies haben sich die Polen gefragt, nachdem sie 1918 ihre staatliche Unabhängigkeit zurückgewonnen hatten. 175 Jahre lang war ihr Land zuvor zwischen Österreich, Russland und Preußen aufgeteilt. Ihre nationale Identität bewahrten und lebten sie in Kunst, Literatur und Philosophie. Doch gelang es ihnen nicht, ihre Träume aus der inneren Emigration, aus der Kultur zurückzuholen und nunmehr selbstbestimmt zu realisieren oder auch nur den regionalen Einfluss der alten Besatzungsmächte abzuschütteln.

Diese "tragische Freiheit", die nicht befreite, führte zu Resignation und Kritik.

Isabelle Vonlanthen: "Es ging ja immer wieder, immer wieder um diesen gesellschaftlichen Umbruch, der ersehnt wurde, der aber nie eingetreten ist und der deshalb in den Gedichten herbeigeschrieben wurde. Es blieb aber bei diesem Herbeischreiben. Man hat eine pathologische Gegenwart konstatiert, hat dazu aufgerufen, sie zu bekämpfen. Aber was fehlte, waren eigentlich die positiven Zukunftsvisionen."

Isabelle Vonlanthen interessiert sich für jene Dichter und Publizisten, denen das Nationale zur Weltanschauung, zur "Ästhetik des Aufbegehrens und der Revolution" wurde, wie sie es nennt. Das Militärische dominiert die Texte. Das Individuum wird zum Soldaten für das Vaterland, bildet Kampfgruppen, bis die Nation marschiert.

"In diesem Zusammenhang wird eigentlich auch die Dichtung als kriegerisch-militärische Tat, als bewaffnete Tat oft beschrieben. Dann ist sicher die religiöse Komponente sehr wichtig. Das Vaterland als auferstandene Nation; die Gottesmutter, die die Polen zu sich holt. Des Weiteren wichtig ist auch die unreine Nation."

Die Literatur wird stark politisch. Dichterisch-militärisch will sie die Nation schaffen, durch ein religiöses Band zusammenhalten und zuletzt bestimmen, was und wer sich zur polnischen Gesellschaft zählen dürfe, damit die Nation als rein anzusehen wäre. So wurden – zumindest literarisch – Minderheiten und unter ihnen vor allem jüdische Bürger angefeindet und ausgegrenzt, schreibt die Autorin

Ukrainer, Weißrussen, Juden und Deutsche. (…) Die größte Bedrohung orteten die Nationaldemokraten aber bei den Juden, mit denen sie in vielfältigen internen Beziehungen im gleichen Staat lebten. Die Juden waren in der Zweiten Republik nicht nur das Feindbild par excellence, ihnen wurde auch eine feindliche Haltung Polen gegenüber zugeschrieben.

Der nationaldemokratische Antisemitismus, der die allgemeinen nationalistischen Tendenzen jener Zeit widerspiegelt, gründete auf einer Kombination von religiösen, sozialen, ethnischen und wirtschaftlichen Aspekten. (…) Anstatt die wirtschaftlichen Probleme mit Reformen zu beheben, wurden in einer zweifelhaften Maßnahme die pauperisierten Juden zu Sündenböcken erkoren.


Buchcover: "Dichten für das Vaterland" von Isabelle Vonlanthen
Buchcover: "Dichten für das Vaterland" von Isabelle Vonlanthen© Theologischer Verlag Zürich
Literatur als Ausdruck des Nationalcharakters
Die neuen Texte sollten das Bewusstsein der Polen stärken und eine neue Gemeinschaft entwerfen. Dabei kann man zwei Lager unterscheiden. Das regierende Lager um Józef Pi³sudski, Marschall und Präsident, entwirft einen Staat für alle Bewohner Polens. Das zweite Lager plädiert – aus der Defensive heraus – dafür, nur Polen reinen Blutes einzubeziehen. Literatur wird so zum Ausdruck des Nationalcharakters.

Isabelle Vonlanthen: "Der sollte schöpferisch sein. Also einerseits musste er Literatur schaffen, musste aber auch die eigene Idee in den literarischen Texten äußern. Und ich denke, man kann auch sagen, dass Publizistik und Lyrik und Literatur dazu beigetragen haben, das Bild einer radikalisierten Gesellschaft zu entwerfen. Es war sicher das Bild auch einer gespaltenen Gesellschaft. Es hat gewisse Denkstrukturen, die Grundierung der Nation, von einem sehr starken katholisch religiösen Muster sicher verstärkt. Und das ist eine Tradition, die nach dem Zweiten Weltkrieg heute auch wieder stärker zu Wort kommt."

"Dichten für das Vaterland" ist sorgfältig editiert und spannend geschrieben. Isabelle Vonlanthen analysiert - fundiert, aber distanziert - nationale Rituale und Symbole in literarischen Texten, verfolgt, wie sie sich entwickeln und die Gesellschaft beeinflussen. Wer Zugang zur nationalen Seele Polens finden will, sollte ihr Buch lesen.

Isabelle Vonlanthen: Dichten für das Vaterland
National engagierte Lyrik und Publizistik in Polen 1926–1939
Theologischer Verlag Zürich, August 2012
444 Seiten, 49,20 Euro
Mehr zum Thema