"Ein Werk auf Leben und Tod"

Von Dirk Fuhrig · 09.02.2013
"Der Schimmelreiter" ist das bekannteste Werk von Theodor Storm - und das letzte, das der Schriftsteller vollendete. Die Geschichte vom ehrgeizigen Deichgrafen Hauke Haien und der scheinbar magischen Verbindung zu seinem Schimmel wurde auch von den Nationalsozialisten missbraucht.
Tatkraft gegen Trägheit, Moderne gegen Beharrungsvermögen, Aufklärung gegen Aberglaube – im "Schimmelreiter" zeichnet Theodor Storm einen Helden, der an die Überlegenheit des Fortschritts glaubt.

Der neue Deich aber soll (...) hundert und aber hundert Jahre stehen; denn er wird nicht durchbrochen werden, weil der milde Abfall nach der Seeseite den Wellen keinen Angriffspunkt entgegenstellt.

Hauke Haien ragt aus der dörflichen Gemeinschaft durch seine Energie heraus. Als Deichgraf will er seine Heimat an der Nordsee-Küste mit technischen Innovationen besser gegen Sturmfluten schützen. Seine Stellung wird durch die innige, scheinbar magische, beinahe unheimliche Verbindung zu seinem Schimmel verstärkt:

Kaum saß er oben, so fuhr dem Tier ein Wiehern wie ein Lustschrei aus der Kehle; es flog mit ihm davon, …; doch der Reiter saß fest, und als sie oben waren, ging es ruhiger, leicht, wie tanzend. Er klopfte und streichelte ihm den blanken Hals, aber es bedurfte dieser Liebkosung schon nicht mehr; das Pferd schien völlig eins mit seinem Reiter.

"Jetzt spukt eine gewaltige Deichsage, von der ich als Knabe las, in mir."

Storm strukturierte den die Kraft der Natur beschwörenden Text durch eine mehrfach gestaffelte Rahmenerzählung – ein typisches Baumerkmal der Novelle.

"Die ‚Novelle‘ ist die strengste und geschlossenste Form der Prosa-Dichtung, die Schwester des Dramas."

... so der Dichter an Gottfried Keller, seinen Kollegen im Geiste des poetischen Realismus. Theodor Storm, 1817 in Husum geboren und als Jurist tätig, war nach seinem Ausscheiden aus dem preußischen Staatsdienst nach Hademarschen bei Itzehoe gezogen, wo er sich eine standesgemäße Villa hatte bauen lassen. Von einer tödlichen Magenkrankheit gezeichnet, arbeitete er dort an dem Text, der sein literarisches Vermächtnis werden sollte und der bis heute zum Kanon der Schullektüre gehört:

"Heute Vormittag 11 Uhr den ‚Schimmelreiter‘ beendet."

... notierte Storm am 9. Februar 1888 in sein Tagebuch. Nach ihrem Abdruck in der Deutschen Rundschau wurde die Novelle als "bewunderungswürdige Schöpfung" gepriesen. In jedem Fall ein "echter Storm" sei dieses Werk voller Seelentiefe - und mit Goethescher Besetzung:
""Man könnte diesen tüchtigen Realisten Hauke Haien, der sein ganzes Dasein der Idee gewidmet hat, dem Meere neues Land zum Schutze der Heimat abzugewinnen, mit dem alten Faust vergleichen ... Storms Held ist die verkörperte Leidenschaft des Ehrgeizes"."

… urteilte der Journalist Moritz Necker.

Das "Faustische" in der Figur des Deichgrafen sorgte für den anhaltenden Erfolg des Schimmelreiters: "Dämonie der Selbstsucht" und eine "Hybris der Selbstüberhebung" wurden ihm bescheinigt. Dieses Heldenhafte und Unbedingte machten die Novelle passend für eine Instrumentalisierung durch die Nationalsozialisten.

- "Ist der Deich in Ordnung?"
- "Für sein Alter ist er ganz gut im Stand. Aber der neue Deich wird besser sein."
- "Ich versteh Dich nicht Hauke. Was willst Du?"
- "Ich will. Ich will einen neuen Deich bauen. Und das ganze Vorland bis zur Hallig dem Meer entreißen."


1934 kam eine erste Verfilmung des Schimmelreiters in die Kinos, die wegen ihrer Verherrlichung der Tatkraft einer Führerpersönlichkeit vom Reichspropaganda-Ministerium mit dem Prädikat "besonders wertvoll" versehen wurde. Aber auch nach 1945 war dieser Film mit Marianne Hoppe als Hauke Haiens Frau Elke noch häufiger im Fernsehen zu sehen.

- "Es ist ein Werk auf Leben und Tod. Alle werden gegen dich sein."
- "Ich weiß. Ich weiß es. Du sollst mich wenigstens nicht umsonst zum Deichgraf gemacht haben. Ich will ihnen zeigen, dass ich einer bin."


Der kompromisslose Streiter, der sich mit Härte durchsetzt – das schien perfekt in die Ideologie des Führerstaats zu passen. Dabei zeigt das tragische Ende des Schimmelreiters eher die Verzweiflung desjenigen, der an seinem Ehrgeiz gescheitert ist.

Herr, Gott, nimm mich, verschon' die anderen!

Nach diesen - berühmt gewordenen - letzten Worten treibt Hauke Haien seinen Schimmel in die Fluten der Nordsee, die ihn und seine Familie verschlingen.