Ein Wechselbad der Gefühle zwischen Komik und Tragik

Von Jochen Meißner · 12.06.2012
22 Einreichungen hatte es gegeben, drei Hörspiele gehörten dann zu engeren Favoriten auf den Preis, und ein Stück wurde nun ausgezeichnet: "Testament", eine Produktion von Deutschlandradio Kultur, wurde vom Bund der Kriegsblinden prämiert. Das Stück ist eine moderne Adaption des King-Lear-Themas.
Lediglich die Top Drei hatte die Jury, die paritätisch aus sieben Kriegs- beziehungsweise Zivilblinden sowie sieben Fachkritikern zusammengesetzt ist, bekannt gegeben: Zum Ersten: das auf einer wahren Begebenheit beruhende Hörspiel "Mörder" von Agnieska Lessmann; ein Stück aus der Perspektive eines Kindes über eine antizionistische Kampagne der Kommunistischen Partei Polens 1968, bei der mehr als 20.000 Juden ausgebürgert oder ins Exil gezwungen wurden.

Zum Zweiten: Jan-Georg Schüttes Speeddating-für-Senioren-Stück "Alterglühen". Und zum Dritten: "Testament", die verspätete Vorbereitungen zum Generationswechsel der Theaterperformancegruppe She She Pop und ihrer Väter.

Petra Müller: "Der 61. Hörspielpreis der Kriegsblinden geht an She She Pop: Testament."

Vorlage des Stückes ist Shakespeares Lear, die Tragödie des alten Königs dessen Kalkül so gar nicht aufgeht:

"Wisst, dass wir unser Reich geteilt in drei. S'ist unser fester Schluss von unserm Alter Sorg und Müh zu schütteln, sie jüngrer Kraft vertrauend, während wir zum Grab entbürdet wanken.

Wir haben eben gehört wie man so einen Generationswechsel organisieren kann, nämlich als Tauschgeschäft: Landbesitz gegen Liebesschwur plus Altenpflege." (Ausschnitt aus "Testament")

Wer sich auf so einen Deal einlässt, muss mit seinen Ressourcen haushalten können, analysiert einer der Väter den kapitalen Fehler Lears. Denn der sofortige und komplette Verzicht auf alle weltlichen Güter erzeugt nur einen kurzen Zuwendungsimpuls, der schnell abklingt und einen für den Rest des Lebens im Elend dahinsiechen lässt. Es kommt also darauf an sein Vermögen langsam an die Erben abfließen zu lassen, um ständig die Pflegebereitschaft der Nachkommen zu stimulieren.

Aber auch die Nachkommen wissen um die Ökonomie der Zuwendung und so fordert eine kinderlose Tochter eine Entschädigung für die Zeit, die der Großvater mit den Kindern ihrer Schwester verbracht hat. Dieser "Enkelfaktor" auf der Rechnung soll den Großvater mehr als 121.000 Euro kosten.

"Papa, wir können sehr gerne über Ratenzahlung sprechen." (Ausschnitt aus "Testament")

Doch das "Testament" funktioniert nicht nur wegen der grotesken Übersteigerung, sondern vor allem deshalb, weil She She Pop den Lear nicht nur aktualisieren, sondern die Operation des Generationswechsels sozusagen am offenen Herzen durchführen. Es sind die echten Väter von Fanni Halmburger, Ilia Papatheodorou und Sebastian Bark, die mit ihnen auf der Hörspielbühne stehen, die sich in Probengesprächen gegen den Drang zum Exhibitionismus ihrer Kinder stellen, weil der, so ihr Vorwurf, "gar nichts Metaphorisches mehr hat". Sie glauben nicht, dass das, was da entblößt werden soll, nur aus Gründen der Theatralität gesagt wird. Lisa Lucassen von She She Pop über die Hörspielproduktion mit ihren Vätern:

Lisa Lucassen: "Was wir gemacht haben, war, ganz langsam und behutsam die Väter allmählich von unserer Theaterform zu überzeugen. Das war harte Arbeit und wir haben bis sechs Wochen vor der Premiere behauptet: wir können das Stück auch ohne euch machen. Also wenn's euch stinkt, könnt ihr gehen und wir werden nicht am Hungertuch nagen, wir müssen nicht unsere Förderung zurückgeben, wir werden irgendwas rausbringen, ob ihr mitmacht oder nicht. Und es war uns die ganze Zeit wichtig, dass die freiwillig da sind und es gibt insgesamt vier Väter, die das Stück können und mit denen wir das geprobt haben, von denen zwei extrem kritisch waren und zwei weniger kritisch, sag ich jetzt mal. Und die ganz, ganz kritischen sind so richtig umgefallen."

Ans Eingemachte geht es, wenn eine Tochter in aller demütigenden Deutlichkeit die Pflegemaßnahmen aufzählt, die an einen auf seine bloße Kreatürlichkeit reduzierten Menschen vollzogen werden müssen - und dazu intoniert der Vater mit brüchiger Stimme und geradezu flehend Withney Houstons superkitschigen Schmachtfetzen - als wäre der Song nur geschrieben worden, damit er genau so vorgetragen wird wie hier.

"I will always love you. - Ihn morgens von oben bis unten waschen und vom Kot befreien. Einmal in der der Woche mit dem Lifter in die Badewanne legen, seine Haare waschen. Ihm einen Latz umlegen und mit dem Löffel füttern. Alle zwei Stunden umlagern, damit er keine Druckstellen bekommt." (Ausschnitt aus "Testament")

Auf der Theaterbühne ist der Zuschauer schon im Bilde bevor ein Schauspieler zu sprechen beginnt. Dass She She Pops Theaterperformace auch in der Hörspielfassung funktioniert, liegt an der akustischen Aufladung der Väterstimmen, denen die Differenz von fremdem und eigenem Text, von Privatheit und Rolle eingeschrieben sind. Und diese Stimmen machen das Spiel mit Peinlichkeiten und Ambivalenzen, mit Grenzüberschreitungen und (Selbst-)Provokationen zu einem sehr anrührenden Wechselbad der Gefühle zwischen Komik und Tragik. Und zum Schluss verriet die Theaterpraktikerin Lisa Lucassen in ihrer kurzen Dankesrede auch noch den Unterschied zwischen Hörspiel und Theater.

Lisa Lucasson: "Und nicht zuletzt haben wir eine ganz neue Perspektive kennengelernt, das Hörspiel nämlich nicht Theater ohne Bild ist, sondern das Theater eine Art Hörspiel mit suboptimalem Timing, zu vielen Atmern, zu wenig Geräuschen und ohne Soundeffekte ist."

Programmhinweis:

In Würdigung der Auszeichnung von "Testament" ändert Deutschlandradio Kultur am 13. Juni 2012 sein Programm und sendet auf dem Hörspiel-Sendeplatz um 21.33 Uhr noch einmal das jetzt ausgezeichnete Hörspiel:

Testament
Hörspieladaption der gleichnamigen Performance
von und mit She She Pop