Ein Trostbüchlein

Rezensiert von Peter Urban-Halle · 25.11.2005
Khalil Gibran, ein arabischer Christ, war ein Wanderer zwischen Orient und Okzident. Sein Buch "Der Prophet", 1923 erschienen, machte ihn schlagartig berühmt. Es ist eine Sammlung von Lebensweisheiten, ein Trostbüchlein. Darin antwortet ein Prophet auf alltägliche Fragen von Liebe, Ehe, Kindern, Arbeit und Schmerz.
Khalil Gibran, der arabische Christ, war ein Wanderer zwischen zwei Welten, zwischen Orient und Okzident; "Der Wanderer" hieß auch sein letztes Buch, das 1932, ein Jahr nach seinem frühen Tod, erschien. Er wurde 1883 im Libanon geboren und pendelte zwischen Beirut, wo er eine arabische Eliteschule besuchte, Paris, wo er Malerei studierte und zum Kreis um Rodin gehörte, und Boston, wohin seine Familie ausgewandert war, hin und her, bis er sich 1912 in New York niederließ. "Der Prophet" von 1923, der 50 Jahre später erstmals ins Deutsche übersetzt wurde und jetzt in einer Neuübersetzung vorliegt, machte ihn schlagartig berühmt.

Es ist eine Sammlung von Lebensweisheiten, ein Ratgeber, ein Trostbüchlein. Wie ein milde gestimmter Zarathustra antwortet ein Prophet namens Almustafa dem Volk, das sich um ihn geschart hat, auf 26 Fragen des alltäglichen Lebens; es geht um Liebe, Ehe, Kinder, Arbeit, Häuser, Gesetze, Schmerz, Freundschaft, Gut und Böse, um Schönheit und Tod.

Es ist ein religiöses, aber zutiefst antiklerikales Buch, weder christliche noch moslemische Institutionen werden von ihm verschont. Unter dem Stichwort "Religion" heißt es: "Euer tägliches Leben ist euer Tempel und eure Religion." Gibran träumt von einem universellen Glauben, der sich an den göttlichen Gesetzen der Natur orientiert; der englische Mystiker William Blake war sein Geistesverwandter.

In einem geradezu metaphernsüchtigen Stil, in einer zwischen Sentimentalität und Erhabenheit wechselnden Sprache predigt er ein in sich ruhendes, harmonisches Leben, das ohne Liebe nicht ganzheitlich sein kann. Der missionarische Eifer ist nicht zu übersehen. Doch unterscheidet sich Gibran von einschlägigen Sektenheiligen durch seine Freiheitsphilosophie: Er wendet sich gegen jede Heuchelei, Formierung und Zurichtung, verlangt einen Freiraum für den Partner und tritt für eine Erziehung zur Selbständigkeit ein – was Wunder, daß "Der Prophet" in den 60er Jahren neben Hesses "Siddharta" zum Kultbuch wurde.

Khalil Gibran:
Der Prophet.

Aus dem Amerikanischen von Ingrid Fischer-Schreiber.
Diogenes Verlag, Zürich 2005. 108 Seiten. € 9,90