"Ein Stück praktischer Nationalsozialismus"

Rezensiert von Jochen R. Klicker · 01.02.2006
Ab Frühjahr 1933 gehörte der so genannte deutsche Gruß zu den eingeforderten neuen Verhaltensweisen im Alltag. Das "Guten Tag" und "Auf Wiedersehen" wurden zwangsweise ersetzt durch das "Heil Hitler" samt erhobenem rechtem Arm und ausgestreckter flacher Hand. Was diese Grußformel mit dem christlichen Gottes-Gruß zu tun hat und warum das "Heil Hitler" eher einen Schwur darstellt als eine Begrüßung - diesen beiden und ähnlichen Fragen ist jetzt der Frankfurter Soziologe Tilman Allert in seinem Buch "Der deutsche Gruß" nachgegangen.
Begonnen hatte das neue Ritual bereits auf den Parteitagen der NSDAP vor Hitlers Machtergreifung im Januar 1933: Die "Heil"- und "Sieg Heil"-Rufe der Parteigenossen, mit denen sie ihren Führern, ihren Blutfahnen, ihrem eigenen Zugehörigkeitsgefühl zum "erwachten Deutschland" huldigten. Und als die nationale Revolution dann stattgefunden hatte und die braunen Kolonnen in Berlin durchs Brandenburger Tor marschiert waren, konnte die Parteipropaganda an dieses Ritual gleich anknüpfen.

Damals hieß es nämlich im Zentralorgan der Partei, dem Völkischen Beobachter:

"Es zeigt sich, dass es eine Aufgabe ist, den herrlichen deutschen Gruß ... zum Bekenntnisgruß der Deutschen untereinander werden zu lassen ... Die Grußworte "Heil Hitler"... sollen uns immer wieder aus dem Kleinkram des Alltags herausheben und an die großen Ziele und Aufgaben erinnern, die Adolf Hitler uns allen gab ... Das ist ein Stück praktischer Nationalsozialismus, das jeder vollbringen kann."

In seiner Studie "Der deutsche Gruß. Geschichte einer unheilvollen Geste" beschreibt der Frankfurter Soziologe Tilman Allert, dass und wie die beiden unterschiedlichen Rituale ihren unterschiedlichen politischen Ort zugewiesen bekamen.

Zur inszenierten Loyalität im Jubel der Massenveranstaltungen heißt es:

"Die skandierten Akklamationen "Heil", die auf den Zuruf "Sieg" antworteten, sind der auf die beschworene Siegeszuversicht echohaft erwiderte Wunsch nach erfolgreicher Bewährung im Kampf. "

Und das gilt für die weltanschaulichen Kämpfe nach innen ebenso wie nach außen für die Schlachten des Zweiten Weltkriegs. – Aber auch der deutsche Gruß "Heil Hitler" selbst wird transformiert. Aus einer Begrüßungsregel wird nämlich eine Schwurformel, mit welcher der Grüßende dem Begrüßten versichert, dass er in Treue fest zum genannten Dritten steht, eben zum Führer Adolf Hitler.

Tilman Allert erläutert die beiden Lesarten des Hitler-Grußes:

"Entweder sei unsere Begegnung die Veranlassung, Hitler Unversehrtheit zu wünschen, wir gedenken seiner, wenn wir einander ansichtig werden. Oder Hitler versehe unsere Begegnung mit seinem Segen, wir haben den Wunsch nach Unversehrtheit im Sinne eines wechselseitigen "Heile dich Hitler" beziehungsweise "Du mögest Heil durch Hitler erfahren"."

Schwurformel, Wunsch nach Unversehrtheit, Erinnerung an einen abwesenden Dritten, Transformation des Alltags – solche Begriffe zeigen, dass der deutsche Gruß nach dem Willen seiner Schöpfer eine religiöse Bedeutung verliehen bekommen hatte, die über die bloße praktische Verdrängung des "Grüß Gott" als Alltagsgruß im süddeutsch-katholischen Raum weit hinaus ging. Der Frankfurter Soziologe schont weder die Volksgenossen von damals noch die Leser von heute, wenn er aufzeigt, wie aus einem zunächst nur geschmack- und gedankenlosen autoritären Parteiritual rasch der Ausdruck einer tief beschädigten Sittlichkeit und schließlich das Symbol für die massenhafte Unterwerfung unter das NS-Gewaltsystem wurde.

Allert zum transzendental überhöhten Hitler-Mythos:

"Die irdische Person des Führers wird sakralisiert, eingerückt in göttliche Qualifikationen – es ist gerade diese Substitution, die das "Heil Hitler" unternimmt. Hitler wird mit der Wirkungsmacht einer göttlichen Institution ausgestattet gedacht; man glaubt an ihn, so wie man an Gott glaubt, und im Gruß wünscht man sich Heil durch ihn. "

Soweit der Teil des Buches, der den Titel "Der deutsche Gruß" trägt und als gelegentlich detailversessene sozialwissenschaftliche Studie daherkommt. Aber der Autor hat auch noch manches zusammengetragen, was dem Untertitel "Geschichte einer unheilvollen Geste" zuzurechnen ist. Und hier wird Geschichte in zahlreichen kleinen Alltagsgeschichten präsentiert, die in entsetzlichen Episoden von der Strafverfolgung derer erzählen, die den deutschen Gruß verweigerten; die lächelnd an die einfallsreichen Tricks erinnern, mit denen sich Regimekritiker der Grußpflicht entzogen; und die schmunzeln lassen, weil die "Gotteslästerung" gelegentlich in der Form des politischen Witzes daherkam. Ohne bedrohliche Konsequenzen seitens des terroristischen Apparates des SS-Staates, versteht sich. Trotzdem bleibt es dabei: Auch solche Episoden können nicht darüber hinwegsehen lassen, dass die Gleichschaltung der Gedanken und Empfindungen per verordneter Hitlergruß-Pflicht erfolgreich gewesen ist.

Buchstäblich "total" erfolgreich, wie eine Bemerkung belegt, die der irische Dramatiker Samuel Beckett am 3. März 1937 auf seiner Rundreise durch Deutschland in Regensburg seinem Tagebuch anvertraut:

"Ich gehe weg, an der Dominikanerkirche vorbei, die ich mir nicht anschaue, bemerke jedoch, dass auf dem Schild über der Nordtüre "Grüß Gott" durchgestrichen und mit "Heil Hitler" ersetzt wurde! "

Tilman Allert: Der deutsche Gruß. Geschichte einer unheilvollen Geste
Eichborn Verlag Berlin 2005
158 Seiten, 16,90 Euro