"Ein spezifisches Ausdrucksmittel der Person"

Moderation Dieter Kassel · 26.06.2007
Für den Schriftsteller Martin Mosebach ist es ein kultureller Verlust, dass die Handschrift zunehmend verdrängt wird. Es gehe damit eine Form verloren, Persönlichkeit zu zeigen, sagte der Träger des Büchner-Preises 2007. Für ihn stelle das Schreiben die Fortsetzung des Zeichnens dar.
Dieter Kassel: Die Gelegenheiten, etwas mit der Hand zu schreiben, werden immer seltener. Längere Texte schreiben die meisten Menschen ohnehin nur noch am Computer, das ist nichts Neues, aber Mobiltelefon und elektronischer Terminkalender sorgen langsam dafür, dass auch beim Notieren einer neuen Telefonnummer oder des nächsten Zahnarzttermins kaum noch jemand zum Stift greift. Da kann man nichts machen, aber man muss auch nicht mitmachen, sagen vor allen Dingen erstaunlich viele Schriftsteller. Einer der prominentesten davon ist Martin Mosebach, Träger des Büchner-Preises 2007. Er hat mit seiner ganz speziellen Handschrift sogar schon die Künstlerin Rebecca Horn inspiriert. Aus dem handschriftlichen Manuskript für seinen Roman "Eine lange Nacht" hat sie 2005 ein Kunstobjekt gemacht. Schönen guten Tag, Herr Mosebach.

Martin Mosebach: Guten Tag.

Kassel: Wenn Sie mit der Hand schreiben, grad auch längere Texte, kommen Sie sich dabei gelegentlich altmodisch vor?

Mosebach: Nein, darüber denke ich überhaupt nicht nach. Ich folge damit einfach einer Gewohnheit.

Kassel: Aber ist nicht gerade beim Schreiben eines Romanmanuskripts diese Handschrift unpraktisch im Vergleich zu elektronischen Möglichkeiten? Ich denke da einfach über die Korrekturen nach, die ja stattfinden müssen sicherlich auch bei Ihnen.

Mosebach: Ja, aber die Korrekturen geschehen in mehreren Gängen. Erst einmal wird das Ganze konzipiert. Erst mal muss die ganze Geschichte dastehen. Und dabei wären zu viele Korrekturen, jedes Denken über jeden Satz, jedes Wort wären eigentlich erst mal hinderlich. Das kann dann in späteren Gängen geschehen, wenn das ganze Manuskript diktiert ist und wenn man dann am Typoskript feilt.

Kassel: Glauben Sie, Sie haben gesagt, Sie denken nicht darüber nach, aber Sie können es ja jetzt ganz kurz tun, glauben Sie, wenn Sie dazu übergehen würden, von Anfang an nicht mehr mit einem Stift vor einem Blatt Papier zu sitzen, sondern etwas in eine Tastatur direkt zu schreiben, Ideen, aber auch Anfänge, dass Sie dann vollkommen andere Romane inhaltlich schreiben würden?

Mosebach: Das kann ich überhaupt nicht beantworten. Der Gedanke ist mir unsympathisch. Ich mache gern etwas mit der Hand. Ich zeichne gerne, für mich ist das Schreiben eigentlich wie eine Fortsetzung des Zeichnens. Die Schreiberei ist ein sehr luftiger Vorgang, Gedanken, Bilder aneinanderreihen, Wörter, das hat eigentlich alles keinen richtigen Körper. Und in der Schrift, in der Handschrift materialisiert sich das. Und es ist einfach eine Freude, wenn morgens das Blatt weiß war und wenn es abends ganz dicht und eng schwarz beschrieben ist.

Kassel: Schwarz ist schon ein Stichwort, offenbar die Farbe, die Sie bevorzugen. Wie wichtig ist denn dann Ihr Handwerkszeug, also die Frage, welches Papier es sein darf und welche Art von Stift?

Mosebach: Ja, ich nehme dazu einen ziemlich billigen Füller mit schwarzer Tinte, ich bin da nicht sehr wählerisch. Früher habe ich so ein Recyclingpapier benutzt, aber das wird dann sehr schnell braun und brüchig. Und ich bin jetzt dazu übergegangen, ganz normales weißes Papier aus dem Kopiershop zu nehmen, und größere Bögen, DIN-A3-Bögen, die ich in der Mitte falte. Dann kann man daraus so Hefte zusammenlegen. Ja, und die dann eben systematisch schwarz zu machen.

Kassel: Was hat es denn eigentlich mit Ihrer sagenumwobenen Schrift auf sich, wo es immer heißt, eine Ihrer Seiten entspricht in etwa zehn Buchseiten? Das muss ja dann eine winzig kleine Schrift sein.

Mosebach: Das ist ja bei sehr vielen Leuten zu beobachten, die viel mit der Hand schreiben, dass ihre Schrift immer kleiner wird. Alle Leute, die in Verlagen als Korrektoren oder Lektoren arbeiten, alle Leute, die viel konzipieren, beginnen vielleicht in ihrem Leben irgendwann mal mit einer aufgeblasenen großen Schrift, die dann eben immer mehr schrumpft. Das ist ein offensichtlich ganz notwendiger Prozess.

Kassel: Aber die Leserlichkeit, in Ihrem Fall, nicht in allen, das ist meine Erfahrung, bleibt die erhalten?

Mosebach: Ja, ich kann’s schon noch lesen, wenngleich mit Mühe.

Kassel: Sie schon mit Mühe. Wie ist es denn mit anderen?

Mosebach: Für andere ist es ja gar nicht bestimmt, es ist ja nur für mich bestimmt.

Kassel: Sie haben gesprochen jetzt von den anderen Menschen, bei denen Sie auch schon beobachten konnten, wer sehr viel schreibt, der neigt dazu, auch immer kleiner zu schreiben.

Mosebach: Ja.

Kassel: Wie wichtig ist es denn für Sie, wenn Sie einen Menschen beurteilen – nicht absichtlich, aber man tut’s ja unabsichtlich ständig, wenn man neue Leute kennenlernt oder neue Facetten bekannter Leute plötzlich bemerkt – wie wichtig ist es für Sie bei der Beurteilung eines Menschen, auch seine oder ihre Schrift zu kennen?

Mosebach: Es ist mir nicht wichtig, die Schrift zu kennen. Ich fordere nicht sozusagen ein Schriftzeugnis. Aber wenn ich eine Schrift sehe, macht sie auf mich einen sehr großen Eindruck, die Handschrift. Das kann ich nur bestätigen. Also eine verkorkste, eine unentwickelte, eine seltsam kindliche Handschrift in spätem Alter, eine irgendwie formlose Schrift, die kann schon einen sehr, sehr ungünstigen Eindruck machen.

Kassel: Wo Sie jetzt über die Kinderschrift gesprochen haben, Herr Mosebach, was mich erstaunt hat, ich habe das nachgelesen oder versucht, zum Teil war es schwierig, auch als ich zur Schule ging, gab es noch Noten für Schrift. Und da ging es auch nicht nur um die Leserlichkeit, die war natürlich wichtig, aber es ging, so hieß das ja auch, es ging um die Schönschrift. Inzwischen ist das in den meisten Bundesländern abgeschafft, es gibt nur noch vier Bundesländer, die solche Noten haben. Da wird aber ausdrücklich, das steht so im Gesetz, inzwischen nicht mehr die Schönheit, sondern nur noch die Leserlichkeit beurteilt. In Hessen, Ihrem Bundesland, ist die Abschaffung dieser Noten so lange her, dass das Kultusministerium in Wiesbaden gar nicht mehr sagen konnte, wann es war, also es muss eine Weile sein. Halten Sie das für einen Fehler, dass auch an Schulen jetzt Schrift, wenn überhaupt, nur noch als Kommunikationsmittel betrachtet wird und nicht mehr als Kulturtechnik?

Mosebach: Ja, das halte ich für einen Fehler. Die Schrift muss zunächst nach kaligraphischen Maßstäben trainiert werden. Dann schleift sich das ja ab, dann entwickelt jeder nach Kurzem eine ganz eigene, vollkommen unverwechselbare Schrift. Man findet den Briefumschlag im Briefkasten und weiß sofort, wer einem geschrieben hat. Übrigens geht das ja hin bis zu Ländern, die ein sehr viel vertrickteres Formniveau des Schreibenlernens pflegen wie Frankreich und England. Man erkennt ja sofort eine englische Schrift, man erkennt sofort eine französische Schrift zum Beispiel, wo tatsächlich offensichtlich in den Schulen ein viel größeres Formtraining stattgefunden hat. Aber das verhindert eben überhaupt nicht, dass die Individualität sich dann herausbildet. Nur wenn die Form einmal wirklich trainiert worden ist, dann kommt erfahrungsgemäß auch eine interessantere Schrift dabei heraus.

Kassel: Was bedeutet es denn, wie zum Beispiel der Bildungswissenschaftler und Historiker und übrigens auch Grafologe Günter Böhme von der Universität Frankfurt angekündigt hat, er sieht das wirklich relativ bald kommen, wenn die Handschrift aus unserem Alltag verschwindet? Man kann ja niemanden hindern, es wird vielleicht dann Minderheitenclubs geben, die sich in "Wright Easys" treffen, um zu schreiben, aber wenn es wirklich bei uns einfach nicht mehr üblich ist. Ich hab das gesagt, wenn man nicht will, dann muss man nicht mal mehr schreiben, wenn man sich eine Telefonnummer notiert. Was würde es bedeuten, wenn die Schrift irgendwann weg ist aus unserem Alltag?

Mosebach: Er verschwindet ein spezifisches Ausdrucksmittel der Person. Aber das hat es ja nicht immer gegeben. Die längste Zeit der Geschichte hat ja die überwiegende Zahl der Bevölkerung nicht schreiben können, und in sehr vielen Ländern der Welt können Sie es immer noch nicht und werden es jetzt dann vielleicht auch nie mehr lernen und drücken sich auf eine andere Weise aus. Und das ist erfreulich, wie jede Form. Ich meine, früher konnten auch mehr Leute selber Musik machen zum Beispiel, konnten singen, konnten irgendein Instrument spielen. Vor noch längerer Zeit haben die Leute, die nicht schreiben können, schöne Reime produziert, haben Volkslieder gedichtet, haben wunderbare Zaubersprüche sich ausgedacht. Es gibt so viele Möglichkeiten, in denen sich Menschen, die keine Künstler sind, ausdrücken können ästhetisch, die in der einen Zeit gefördert, in der anderen Zeit eben wieder zurücktreten. Es ist ein Mittel, Persönlichkeit zu zeigen, auf jeden Fall. Und wenn es verschwindet, dann ist nur zu hoffen, dass andere Mittel an diese Stelle treten.

Kassel: Ganz kurz zum Schluss, wenn ich Sie das noch fragen darf, weil es mich interessiert bei einem Menschen, wo ich schon glaube, der sich auskennt mit gutem Benehmen und Wert darauf legt, heute, nicht in Zukunft, gibt es sogar Fälle, wo Sie finden, wenn jemand einen bestimmten Text nicht mit der Hand schreibt, wenn er Ihnen den schön am Computer geschrieben und ausgedruckt zuschickt, ist das unhöflich, gibt es Sachen, wo Sie sagen, das geht wirklich nicht, das ist keine Ansichtssache?

Mosebach: Nein, aber ein handgeschriebener Brief von einer Person, die einem zeigen möchte, dass ihr dieser Brief wichtig ist, spielt nach wie vor eine sehr, sehr große Rolle. Davon machen auch sehr viele Leute noch Gebrauch. Ich würde nicht sagen, dass man heute verurteilen würde, wenn jemand nicht mit der Hand schreibt, weil tatsächlich sehr viele Leute eine so verkorkste Schrift inzwischen haben, dass das Lesen eine Qual wäre, eines längeren Briefes. Aber in meiner Sicht ist es noch sehr verbreitet, einen Brief, auf den man Wert legt, mit der Hand zu schreiben.

Kassel: Herzlichen Dank. Der Schriftsteller Martin Mosebach war das über die Bedeutung der Handschrift in seinem Leben und in unserer Kultur.