Ein spezieller Blick auf den Dramatiker aus Stratford

Shakespeares Totenmaske
Shakespeares Totenmaske © AP
Rezensiert von Martin Ahrends · 04.12.2011
Unter den Vorzeichen seiner mimetischen Theorie untersucht der Religionsphilosoph René Girard die Werke William Shakespeares.Eine dickleibige Interpretation, die 20 Jahre nach der Erstveröffentlichung nun ins Deutsche übersetzt wurde.
In seiner "mimetischen Theorie" bestimmt René Girard den Menschen als kulturelles Mängelwesen, das durch die Nachahmung fremder Seinsentwürfe seinem Leben Sicherheit zu geben sucht. Nachahmend essen und reden wir, informieren uns und urteilen, als müsste das so sein. So kommen wir durch manchen Tag, ohne den eigenen freien Willen geschweige denn das Gewissen auch nur erweckt zu haben. Wir sind nicht aufgefallen, haben getan, was alle taten – und es ist gut gegangen.

Ist es gut gegangen? René Girard bezweifelt das. Er misstraut unserer zweiten Natur, dem nachgeburtlich Angelernten, dem gewohnheitsmäßig Nachgeahmten, dem, was wir für selbstverständlich halten, weil es alle machen. Er behauptet den vom Gewissen geschärften Willen als wichtigste Chance der Humanisierung gegen die Verderbnis blinder Nachahmung. Als menschlich gilt es ihm, aus der Reihe zu tanzen und die Folgen eigenen Tuns zu bedenken, bevor man handelt.

"Für das, was ich tue, ist der Begriff Interpretation ( ... ) nicht angemessen. Meine Aufgabe ist viel elementarer. Zum ersten Mal lese ich einen Text so wortgetreu, wie er bisher ( ... ) noch nie gelesen wurde: Dazu gehören Begehren, Konflikt, Gewalt und Opfer. Die Freude am Schreiben der Untersuchung speiste sich aus den immer wieder neuen Entdeckungen im Text, die der neomimetische Ansatz erlaubt."

Das ist ein hoher Anspruch. Der spezielle Blick, mit dem Girard nicht weniger als 14 Dramen und einige Sonette liest, ist vielleicht keine Revolution in der Shakespearedeutung, aber für Theaterleute gewiss geeignet, neue Aspekte zu gewinnen. Die Karriere dieses Buches im angelsächsischen Raum beruht denn auch vor allem auf dem Interesse eines großen Kreises von Fachleuten, all der Schauspieler, Dramaturgen, Regisseure, die mit den Stoffen vertraut sind, vielleicht zu vertraut, um nicht dankbar zu sein für solch eine radikale Sicht der Shakespeare-Figuren. Zur "Schändung der Lucretia" schreibt Girard:

"Der glückliche Besitzer einer vollkommenen Frau sollte nicht weniger diskret, ja verschwiegen sein als der Priester eines heiligen Mysteriums. Collatine der Verkünder erntet, was er gesät hat. Shakespeare schiebt die Schuld an der Vergewaltigung nicht einfach von einem Mann zum anderen, er macht beide Männer gemeinsam als Urheber eines Verbrechens verantwortlich, für das sie sich bald gegenseitig bestrafen werden. Collatine weiß die Schönheit seiner Frau nur im grellen Schein des Neides wirklich zu würdigen. Der Neid ist für ihn ein Aphrodisiakum par excellence, der einzig wahre Liebestrank. Tarquinius' Begehren ist vom Neid bestimmt, aber auch bei Collatine ist das der Fall. Sein Neid auf Tarquinius' Neid macht ihn zum Nachahmer seines Rivalen, macht beide gleich. Der Unterschied zwischen Held und Schurke schwindet."

Schlichter ist dies nicht zu haben, Girards' mimetische Theorie sieht die Ursache menschlicher Konflikte im Aneignungsverhalten von Menschen, die in engem Kontakt miteinander leben. So entstünden Rivalität, Neid und Eifersucht, die gewissermaßen "ansteckend" seien und zu Gewalteskalationen führten, in denen das ursprüngliche Objekt keine Rolle mehr spielt. Die emotionale Reinigung einer Gruppe durch das Opfer eines beliebigen Sündenbockes hält Girard für einen inhumanen Mechanismus, der nur zu brechen ist, wenn jeder einzelne Mensch seinem Gewissen folgt, anstatt sich zur Nachahmung kollektiver Emotionen hinreißen zu lassen.

"Sobald das eigene Begehren durch das auf den Freund übertragene begehren neu belebt worden ist, fürchtet dieses neu belebte Begehren genau die Konkurrenz, nach der es sich gesehnt hat ... Werte und Bedeutungen, die voneinander getrennt bleiben sollten, vergiften einander: Freundschaft und Eros, Besitzstreben und Freigiebigkeit, Frieden und Krieg, Liebe und Hass."

Dies nennt Girard das mimetische Paradox, das, wie man bei Shakespeare lernen könne, stets ins Verderben führe. Das einzig wirksame Hilfsmittel dagegen sieht er in einer Religion, die jeden ihrer Anhänger auf das eigene Gewissen zurückverweist. Die Passionsgeschichte des Jesus Christus stehe für die Erkenntnis, dass wir uns das Opfer von Sündenbücken nicht mehr leisten können, wenn wir uns Menschen nennen wollen. Die Hauptthese des Religionsphilosophen Girard besagt, dass die jüdisch-christliche Offenbarung sich elementar von archaischen Religionen unterscheidet, weil sie historisch zum ersten Mal die Gewalt kritisiert und das Blutopfer anprangert.
"Der Glaube an die heilenden Eigenschaften des Opfers ist nicht 'rational', er ist aber gut begründet. ( ... ) Das Opfer stellt die ursprüngliche Reinigung oder Läuterung menschlicher Gemeinwesen dar."

Allein im Christentum sieht er den konsequenten Verzicht auf Gewalt und Opferkult, die Liebe sei hier der einzige Weg zur Gottesnähe. Das Christentum delegitimiere die heilige Gewalt der archaischen Religionen. Der entscheidende Unterschied zu jenen ist der, dass die Bibel die Unschuld des Opfers erkennt. Nach Christus könnten wir das Opfer nicht mehr töten und dabei schuldfrei bleiben. Das Christentum sei deshalb ein unvermeidbares Wagnis auf dem Weg der Humanisierung. Über die Ansteckungsgefahr kollektiver Emotionen hat Girard zuvor schon verschiedentlich geschrieben. Das Opfer des Sündebocks ist für ihn, der von der Erfahrung der Judenverfolgung des deutschen Nationalsozialismus geprägt ist, zu einem Lebensthema geworden.

Girards Sicht auf Shakespeare ist so originell und fruchtbar wie sie dogmatisch ist, weil sie nur finden will, was seine mimetische Theorie bestätigt. Weil Girard nicht unumstritten ist, bezieht er sich in diesem Buch immer wieder auf seine Kritiker und weist sie mit der Geste eines großen Verkünders in die Schranken.

"Sind die auf den Kontext bezogenen Argumente hinreichend, um die mimetische Lesart zu gefährden? Keineswegs, denn verglichen damit leuchtet die mimetische Bedeutung so grell wie das Licht von zehntausend Sonnen."

Was Girard in Shakespeares Werk, einem der meist interpretierten der Welt, originell zu Tage gefördert hat, wird die Rezeption seiner Schrift nicht zuletzt unter Theaterpraktikern, wird die praktische Umsetzung seiner Entdeckungen erweisen. Bedenkenswert bleiben Girards Thesen allemal, denn das feste Gerüst angeborenen Verhaltens verliert an Tragfähigkeit, je weiter wir uns in die Region unserer Kulturen wagen; um dort Sicherheit zu gewinnen, ahmen wir nach und gehen fehl, gehen kollektiv womöglich in eine furchtbare Irre. Und bleiben zuletzt doch allein mit unserer Schuld. Darauf immer wieder mit der ihm eigenen insistierenden Eloquenz verwiesen zu haben, ist gewiss eines der bleibenden Verdienste des Religionsphilosophen René Girard.

Rene Girard: Shakespeare. Theater des Neides
Hanser Verlag
Buchcover: "Shakespeare" von René Girard
Buchcover: "Shakespeare" von René Girard© Hanser Verlag
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