Ein Sommer mit Schwester Gratia

Von Nathalie Nad-Abonji · 07.07.2012
Das Haus St. Ursula in Graal-Müritz an der Ostsee war einst ein Hotel, zu DDR-Zeiten wurde es ein katholisches Kinderheim. Die Missionsschwestern vom Heiligen Namen Mariens machten nach der Wende eine Familienferienstätte daraus. Rund 120 solcher Einrichtungen gibt es bundesweit – dort sollen sich Familien erholen und Gemeinschaft erleben.
Das Haus St. Ursula in Graal-Müritz an der Ostsee war einst ein Hotel, zu DDR-Zeiten wurde es ein katholisches Kinderheim. Die Missionsschwestern vom Heiligen Namen Mariens machten nach der Wende eine Familienferienstätte daraus. Rund 120 solcher Einrichtungen gibt es bundesweit – dort sollen sich Familien erholen, zueinanderfinden und Gemeinschaft erleben. Nathalie Nad-Abonji hat die Ordensschwestern und ihre Gäste in Graal-Müritz besucht:

Kinder und Erwachsene strömen aus dem Speisesaal in die Eingangshalle von St.Ursula in Graal-Müritz. Die 140 Gäste sind vor wenigen Tagen angereist. Schwester Gratia legt die Glocke aus der Hand:

"Wir feiern heute ein Fest. Unseren Morgenkreis. Und da sind alle Tiere in dieser Geschichte, die wir jetzt hören werden eingeladen zu einem ganz großen Fest."

Fünf Kinder klammern sich aufgeregt an ihre Textblätter und erzählen Michael Endes Geschichte von der Schildkröte "Tranquilla Trampeltreu":

Mädchen: "Wenn alle Tiere groß und klein eingeladen sind, dann bin ich es wohl auch. Und wenn mich der große König ausdrücklich eingeladen hat, warum sollte ich nicht auch zur Hochzeit kommen? (Weiter ein Junge): Nachdem sie den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch nachgedacht hatte, stand ihr Entschluss fest. Kaum war die Morgensonne aufgegangen setzte Tranquilla Trampeltreu sich in Bewegung. Schritt für Schritt."

Sr.Gratia: "Ja, wir bitten den lieben Gott, dass er mit uns auch auf unserem Weg geht."

Der Morgenkreis gehört zum Urlaubsprogramm in St. Ursula. Genauso wie die Familiengottesdienste in der hauseigenen Kirche und die Meditationen. Bevor die Kinder auseinandergehen, spricht Schwester Gratia das 11-jährige Mädchen an, das die Schildkröte gespielt hat.

Sr. Gratia: "Es war ganz toll. Das ist rüber gekommen. Der feste Entschluss Schritt für Schritt."

Das blonde Mädchen bedankt sich und hält währenddessen nach seinem Vater Ausschau. Seit sie denken kann, verbringt es mit seinem Eltern und den vier Geschwistern die Ferien bei den Missionsschwestern:

Mädchen: "Die Schwestern sind nett und wir kennen die mittlerweile. Der Vater: Die passen einfach gut zusammen. Ein hohes Maß an Gemeinsamkeit. Das ist eine feine Sache hier."

Die Familie aus Berlin entscheidet sich jedes Jahr aufs Neue ganz bewusst für einen Urlaub in der Familienferienstätte:

Vater: "Das Leben mit den Schwestern ist einfach ein anderes als die multimediale Welt, die man heute allgemein so trifft. Man trifft ja, wenn man sich einen Prospekt anschaut, trifft man überall darauf dass alles auch multimedial angebunden ist. Dass man überall Fernsehen gucken kann und den Computer benutzen kann und am besten seine E-Mails von zu Hause noch abfragen kann. Und das brauchen wir hier halt alles nicht. Hier kann man das wirklich alles zu Hause lassen. Und die Schwestern bieten hier ein anderes Feeling. Mir persönlich ist das Feeling – ich nenne es mal Feeling – angenehm. Die Religiosität dabei brauche ich nicht. Aber die spielt möglicherweise irgendwo eine Rolle für den Geist dieses Hauses."

Die Missionsschwestern vom Heiligen Namen Mariens engagieren sich seit der Ordensgründung 1920 in Pflegeberufen und Kindererziehung:

Sr. Gratia: "Das ist wunderschön hier. Sprudelndes Leben."

Schwester Gratia, 69 Jahre alt und einst die Leiterin des Kinderheimes, steht an der Tür zum Spielzimmer. Die Ordensfrau plant und organisiert alle Freizeitangebote für die Familien. Kinder wuseln zwischen ihren Beinen umher, klettern auf einen riesigen Schiffsrumpf, der eine zweite Ebene bildet und rutschen von dort aus eine gelbe Rutsche hinunter. Es gehört zum Konzept der Familienferienstätte, dass die Eltern auch mal Zeit ohne ihre Kinder verbringen. Das Urlaubsangebot richtet sich in erster Linie an kinderreiche Familien, an Eltern mit behinderten Kindern oder Alleinerziehende. Gerade sie haben oft das Bedürfnis sich mitzuteilen:

Sr. Gratia: "Alleine dieses Aussprechen, was in einem ist und sich bewegt. Das hilft ja schon, um diesen großen Eisberg der Angst und der Not abzubauen."

Ein kleines Mädchen mit blauen Augen und dunklen Wimpern stellt sich neben die Ordensfrau:
"Hallo. Du spielst schön, ne?"

Elisabeth, genannt Lisa ist 9 Jahre alt und mit ihrer Mutter und ihrem Bruder da. Keiner von ihnen glaubt an Gott, stellt sie klar:

Lisa: "Wir wurden nicht getauft und so. Trotzdem dürfen wir hier schlafen."

Wenige Minuten später beim Mittagsgebet steht Lisa genau so auf wie alle anderen Gäste. Ein Mitarbeiter der Caritas spricht das Tischgebet:

Dubke:"Okay, wollen wir alle gemeinsam beten und schließen alle mit ein, die jetzt noch kommen werden. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. Kartoffeln, Gemüse, Fleisch. Du beschenkst uns reich. Zum Schluss ein Pudding oder Kompott. Es geht uns wirklich gut, oh Gott. Danke für die vielen Gaben. Gib bitte auch denen die weniger haben. Amen."

Seit knapp zehn Jahren ist St. Ursula in Trägerschaft der Caritas. Für Schwester Gratia wurde die Belastung zu groß. Alle zwei Wochen kommen neue Gäste.

Lisa, ihr Bruder und ihre Mutter sitzen gemeinsam mit anderen Alleinerziehenden und deren Kindern an einem Tisch. Auch die Eltern mit behinderten Kindern sitzen beieinander. Die Tischordnung ist mit Absicht gewählt und bleibt die gesamten 14 Tage unverändert. Gäste mit einem ähnlichen Alltag sollen so zueinander finden und sich austauschen.

Zwei Stunden später in Warnemünde. Lisa und ihre Mutter Beate Drews stehen mit Andrea Thrun am Anlegeplatz. Sie warten auf das Schiff, mit dem die Gruppe eine Hafenrundfahrt machen wird. Auch Andrea Thrun ist alleinerziehend. Die Vorstellung, abends alleine im Hotelzimmer zu sitzen, beschreibt sie als den blanken Horror:

"Ich glaube, dass gläubige Menschen offener, direkter miteinander umgehen. Und dass ist schön bei so einer Freizeit, wo man ja nur für kurze Zeit zusammen ist. Dass man da Hürden gar nicht entstehen lässt und ansonsten, wenn da welche sein sollten, schneller drüber hinweg sieht. Und das war so für mich mit der Grund zu sagen: Ich suche mir eine christliche Einrichtung als Ferienstätte."

Andrea Thrun ist Anfang 40. Vor sechs Jahren wurde bei ihr eine schwere Krebserkrankung festgestellt:

"Und die daraus entstandene Sinnkrise musste beantwortet werden. Und ich hatte mich vorher schon – als ich gesund war – viel mit anderen Religionen beschäftigt und nie die Antworten gefunden. Und da dachte ich: Mein Gott, wir leben in einem christlichen Land und vielleicht ist die Antwort näher als du denkst. Dann bin ich eines Sonntagmorgens los mit meiner Tochter und in die nächste Gemeinde, die eigentlich nur ein paar Straßen weiter war. Und habe dort – nicht sofort aber über die Zeit - viele Antworten für mich gefunden."

Schwester Gratia – immer in ihrer grauen Tracht – steigt mit ihren Gästen auf das Schiff. Beate Drews nimmt auf dem Oberdeck Platz. Sie war sich erst unsicher, ob sie als Atheistin in St. Ursula gut aufgehoben sein könnte. In der Erziehung spielt Glaube keine Rolle:

Beate Drews: "Die Kinder haben die Frage gestellt, warum ist Jesus ans Kreuz genagelt worden. Und da habe ich gesagt, da ich es ja nicht genau weiß, da fragen wir mal eine Schwester."

Die Familienferienstätten sind für Familien mit wenig Geld eine günstige Möglichkeit, Urlaub zu machen. Zumal manche Bundesländer Zuschüsse geben. Beate Drews' Tochter Lisa hat sich mittlerweile mit Johannes, einem behinderten Jungen angefreundet. Johannes ist drei Jahre alt und von Geburt an Spastiker. Er, seine Eltern und Lisa sitzen unten an Deck im überdachten Restaurant. Lisa will Johannes mit Hilfe seiner Mutter auf den Schoß nehmen. Im Hintergrund erzählt der Kapitän die Geschichte Warnemündes:

Gabriele Kaliga:" Ja, ja, er rutscht. Macht sich steif. Weil er einen starken Muskeltonus hat. Aber es klappt.
Lisa: Ist gar nicht schwer.
Mutter: Er weint nicht, fühlt sich pudelwohl."

Schwester Gratia sitzt nachdenklich draußen an Deck. Sie nutzt die Schifffahrt, um sich etwas auszuruhen. Immer wieder spürt die Ordensfrau etwas Wehmut, wenn sie sich nach jeweils zwei Wochen von ihren Gästen verabschiedet:

"Das ist das Herz, das bewahrt was in dieser Freizeit geschehen ist. Der Kopf ist frei für den Gast, der vorne klingelt und Einlass haben möchte."