"Ein sehr, sehr schwieriges Verfahren"

Moderation: Ulrike Timm · 11.05.2011
Als Gerichtsreporter des Bayerischen Rundfunks hat Tim Aßmann das Verfahren gegen den mutmaßlichen KZ-Helfer John Demjanjuk begleitet. Im Interview erzählt er von den bewegendsten Momenten des langen Prozesses.
Ulrike Timm: Seit November 2009 läuft in München der Prozess gegen den mutmaßlichen Massenmörder John Demjanjuk. Ihm wird Beihilfe zum Mord vorgeworfen, 1943 soll er als Wachmann mitgeholfen haben, im Vernichtungslager Sobibor rund 28.000 Menschen umzubringen. Demjanjuk, mittlerweile 91 Jahre alt, gehörte zu den ukrainischen Trawniki, die den Nazis als Hilfskräfte dienten. Wie viel Schuld hat ein Scherge im Dienst?

Auch diese Frage kam bei einem der letzten und spektakulärsten Holocaust-Prozesse immer wieder zur Sprache. Ein langer Prozess. Heute am 92. Tag plädierte die Verteidigung auf Freispruch, die Staatsanwaltschaft hat sechs Jahre Haft gefordert, für morgen wird wahrscheinlich mit dem Urteil gerechnet. Tim Aßmann hat als Gerichtsreporter des Bayerischen Rundfunks diesen Prozess kontinuierlich beobachtet und Tagebuch geführt. Herr Aßmann, ich grüße Sie!

Tim Aßmann: Hallo!

Timm: Herr Aßmann, am Anfang begleiteten den Prozess Hundertscharen von Journalisten aus aller Welt, dann lichteten sich die Reihen, und zum Schluss war die Öffentlichkeit auf ein kleines Häufchen geschrumpft. Was war eigentlich Ihr persönliches Motiv zu sagen, ich tu mir das vom Anfang bis zum Ende an?

Aßmann: Nun, ich wollte einfach wissen und dann auch wirklich abschließend gut und genau beurteilen können, wie die deutsche, wie die Münchener Justiz sich dieser Aufgabe stellt. Jahrzehnte später, knapp 70 Jahre später, nun also so ein Verfahren. Man hat keine Zeugen mehr, jedenfalls nur noch ganz, ganz wenige, man hat niemanden, der sagt, er hat Demjanjuk damals in Sobibor gesehen. Man muss hier also nach Aktenlage arbeiten, man muss sich alte Zeugenaussagen, alte Vernehmungsprotokolle noch mal vornehmen, und das ist ja hier juristisches Neuland, was die Münchener Justiz betreten hat: Also ein Ausländer wird angeklagt wegen Verbrechen im Ausland an anderen Ausländern, das hat es so noch nicht gegeben. Und da hat mich einfach interessiert, wie machen diese Richter das, die zudem ja auch noch die Last mit sich rumschleppen, dass Deutschlands Justiz in den Jahrzehnten nach dem Krieg ziemlich oft weggeschaut hat bei deutschen Tätern. Und nun wird hier ausgerechnet ein gebürtiger Ukrainer vor Gericht gestellt.

Timm: Heute das Plädoyer der Verteidigung auf Freispruch, war das eine Überraschung oder hat man damit gerechnet?

Aßmann: Nein, das war klar. Das war klar, dass die Verteidigung genau dieses fordern würde. Es ist sowieso ein ganz komisches Momentum hier entstanden: Nach eineinhalb Jahren Beweisaufnahme stehen im Prinzip die Parteien exakt dort mit exakt den Argumenten, wo sie eben vorher auch schon standen. Die Verteidigung sagt, es ist nicht bewiesen, die Beweise reichen nicht aus, um zu sagen, Demjanjuk war in Sobibor, und wenn er dort gewesen sein sollte, dann war er das kleinste Rädchen unter den kleinen Rädchen, hat also gar keine eigentliche Möglichkeit gehabt, sich hier dem Treiben zu entziehen und hätte auch nicht fliehen können. Und Staatsanwaltschaft und Nebenklage sagen eben genau das Gegenteil, und genau da sind wir jetzt bei den Plädoyers eben auch wieder angelangt.

Timm: Das heißt, eineinhalb Jahre Prozessführung haben im Grunde keine Klarheit gebracht, und man ist eigentlich auch nicht wirklich schlauer als vorher?

Aßmann: Ich denke, sie haben insofern noch einmal bestätigt, dass es Beweise dafür gibt, dass Demjanjuk dort eben Wachmann war in Sobibor. Ich persönlich halte das für erwiesen. Es gibt hier den Dienstausweis, es gibt Verlegungslisten, und es gibt auch eine Aussage eines ehemaligen Kameraden. Die Staatsanwaltschaft, die Nebenklage sagen, der Mann war da, aber das war eben ja auch vorher schon wirklich sehr, sehr deutlich im Raum gestanden. Das Entscheidende wird sein – und das war eben auch schon die Frage vor Prozessbeginn: Wie wertet man die Schuld eines solchen kleinen Rädchens, wenn man eben zu dem Schluss kommt – vielleicht tut das ja morgen das Münchener Gericht –, dass er dort war? Wie wertet man das dann also? Wie sagt man, wir als Richter versuchen nun uns hineinzuversetzen in die Gefühle, in die Situation eines Menschen, der 1943 als ehemaliger Rotarmist zum Dienst in einem Vernichtungslager von den Deutschen gezwungen wurde?

Und man muss dazu ja sehen, die Rotarmisten sind zu Hunderttausenden in den deutschen Kriegsgefangenenlagern verhungert, sie wurden dort zum Verhungern gezwungen, es wurde ihnen nichts gegeben. Das heißt, so einer tritt nun also in den Dienst der Deutschen, um dem Hungertod zu entkommen, macht dann mit im Vernichtungslager, ist Teil des Systems – ohne solche Leute wäre es nicht gegangen –, aber welche Schuld tragen die nun? Das ist die Aufgabe, die die Münchener Richter nun morgen, das ist diese Frage, die sie zu beantworten haben, und das ist sicherlich eine ganz, ganz schwere, und die hat diesen Prozess eben auch von Anbeginn an geprägt.

Timm: Wie viel Schuld hat ein Scherge im Dienst? Diese Frage zog sich durch den ganzen Prozess wie ein roter Faden. Sie, Tim Aßmann, haben Tagebuch geführt, um sich vielleicht auch selber noch mal ja ständig zu vergewissern, was kann man wissen, was kann man an Anklage erheben, wie viel Schuld trägt John Demjanjuk? Welche Höhe- und welche Tiefpunkte des Prozesses verzeichnet denn Ihr Tagebuch, wenn Sie heute drin lesen?

Aßmann: Ja, die Aufgabe dieses Logbuches – haben wir es hier mit einem Kollegen zusammen genannt –, die war eigentlich, uns immer gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen. Wir wussten, das wird hier sehr, sehr lange dauern, und wir wollten einfach wissen, was ist wann gewesen. Wir mussten es ja noch mal nachschlagen können. Und dann stellt man aber fest, dass durch diese Chronistenpflicht, die man sich da selber auferlegt hat, man ja viel mehr in die ganze Sache reinrutscht, und dann wird manchmal tatsächlich auch das sture und stupide Verlesen von Akten interessant, weil man eben so im Verfahren drin ist und dem Ganzen dann gut folgen kann.

Ich muss sagen, für mich war einer der entscheidenden Momente, als John Demjanjuk das erste Mal selber etwas gesagt hat hier zum Verfahren und eine Erklärung abgegeben hat und gesagt hat: Ich bin Kriegsgefangener Deutschlands, ich sehe das hier als Folterprozess an. Das war sicherlich ein bewegender Moment, aber es war eben auch so ein ganz wichtiger Moment, oder mehrere Momente waren das, wenn die Nebenkläger hier aufgetreten sind, also die Angehörigen von Juden, von holländischen Juden in der Mehrzahl, die damals in Sobibor ermordet wurden, in der Zeit, in der Demjanjuk da gewesen sein soll. Wenn dann Leute also berichten, wie diese Ereignisse sie bis heute prägen – Menschen, die damals Säuglinge waren, ihre Eltern nie kennengelernt haben, teilweise dann auch als Nichtjuden erzogen wurden und viel später erst erfahren haben, also meine wirklichen Eltern starben in Sobibor –, das waren die ganz bewegenden Momente, und die haben sicherlich auch die Bedeutung dieses Prozesses unterstrichen und manchem vielleicht auch die Frage nach dem Sinn des Ganzen dann beantwortet.

Timm: Die Verteidigung Demjanjuks setzte ja auf Verschleppung, und mancher mutmaßt sogar, dass darauf kalkuliert wurde, dass der Angeklagte das Ende des Prozesses gar nicht mehr erlebt. Haben Sie schon mal eine solch vergiftete Atmosphäre in einem Gerichtssaal erlebt zwischen Anklage und Verteidigung wie im Demjanjuk-Prozess? Denn es wurde ja richtig gesetzt auf Ignoranz – wenn Leute erzählten von den Leiden in Sobibor, wenn Verwandte, Nachkommen erzählten, was sie wussten, das war ja augenfällig.

Aßmann: Ich würde sogar noch weiter gehen, es wurde teilweise auch auf Provokation seitens der Verteidigung gezielt. Es wurde auch immer so ganz haarscharf an der Grenze zur Verharmlosung der Leiden der Opfer vorbeigeschrammt. Ich bin zehn Jahre Gerichtsreporter beim Bayerischen Rundfunk, es ist mein dritter NS-Prozess, ich habe eine solche Atmosphäre zwischen den Prozessbeteiligten, so viel Konfrontation noch nicht erlebt. Das ist wirklich äußerst selten, dass man erlebt, dass der vorsitzende Richter – das ist hier ein sehr besonnener und sehr ruhiger Mann –, dass der und der Verteidiger sich anschreien im Gerichtssaal. Und das hat es hier wirklich mehrfach und oft gegeben.

Das hat damit zu tun, dass die Verteidigung hier von vornherein die Strategie gefahren hat zu sagen, er war nicht da, er war das kleinste Rädchen und hier eben auch in der Person des Wahlverteidigers Ulrich Busch sehr zur Polemik gegriffen hat und manchmal weniger auf juristische Sachkenntnis. Und das führte dann dazu, dass bei einem so langen Prozess – eineinhalb Jahre, das ist für alle Beteiligten wirklich sehr lang und eben auch sehr anstrengend und zermürbend – teilweise die Emotionen dann eben hochkochten. Und das hat man auch jetzt bis zum Schluss gemerkt. Ulrich Busch hat also noch einmal gesagt, er ist davon überzeugt, dieses Gericht war von Anfang an befangen, wird seinen Mandanten dementsprechend auch klar schuldig sprechen, und er rechnet natürlich schon mit der nächsten Instanz und sagt, das Ganze muss vor den Bundesgerichtshof.

Timm: Ulrich Busch, der Verteidiger von John Demjanjuk. Wir sprechen mit Tim Aßmann, der über den Demjanjuk-Prozess ein Tagebuch geschrieben hat. Es gingen ja vor allem immer wieder Bilder dieses uralten Greises durch die Medien, der da im Rollstuhl oder gar in einer Art Prozessbett vernommen wurde, und zeitweilig stand der Zustand des Angeklagten mehr im Rampenlicht als die Kriegsverbrechen. Was hat das mit dem Prozess gemacht?

Aßmann: Das war immer wieder das zentrale Begleitmotiv – ich würde mal wirklich die Betonung auf "Begleit-" auch legen dieses Verfahrens. John Demjanjuk konnte zu mehreren Verhandlungstagen nicht kommen, weil es ihm gesundheitlich nicht gut genug ging. Es ist auch immer wieder seitens der Verteidigung thematisiert worden, es hieß dann, wir müssen jetzt hier abbrechen, den Prozess aussetzen oder ganz beenden, weil es nicht mehr geht. Allerdings standen diese Aussagen der Verteidigung in krassem Widerspruch zu den medizinischen Gutachtern, die wiederholt in diesem Verfahren ausgesagt haben – Demjanjuk wurde alleine binnen weniger Monate im vergangenen Sommer mehr als 30 Mal untersucht bezüglich seines Blutes, er leidet unter einer Bluterkrankung.

Und man hatte auch sonst den Eindruck, dass es diesem Mann trotz seiner 91 Jahre wirklich nicht so schlecht geht, wie die Verteidigung es oft dargestellt hat. Er konnte sich dann eben, wenn die Verhandlung kurz unterbrochen war, sehr, sehr gut mit seinem Verteidiger unterhalten und ist dann wiederum, sobald die Verhandlung fortgesetzt wurde, in eine Art Dämmerzustand verfallen. Er hat manchmal auch im Gerichtssaal dann eben geschlafen, das hat man auch deutlich gehört. Das ist natürlich ein sehr, sehr schwieriges Verfahren, aber die Verteidigung hat hier wirklich alles versucht, um deutlich zu machen, wir kümmern … das Gericht hat alles getan, um deutlich zu machen, wir kümmern uns hier wirklich um die Gesundheit des Angeklagten, wir achten darauf. Und bis heute ist er eben verhandlungsfähig, und er wird eben dann voraussichtlich auch morgen beim Urteil natürlich dabei sein.

Timm: Der Prozess schreibt ja auch Rechtsgeschichte, weil es zum ersten Mal eigentlich nicht um ihn als Einzeltäter ging, sondern um die Verantwortung eines Zugehörigen einer Gruppe, eben der Hilfskräfte, der ukrainischen Hilfskräfte. Was bedeutet dieser Prozess für die Rechtsprechung?

Aßmann: Nun, wir haben hier in zweierlei Hinsicht juristisches Neuland betreten. Zum einen – das habe ich erwähnt – einen Ausländer wegen Taten im Ausland gegenüber Ausländern, das hat es so noch nicht gegeben, und zum anderen gibt es hier eine Theorie, die der Anklage zugrunde liegt. Normalerweise muss im deutschen Strafrecht eine Einzeltat nachgewiesen werden können, das heißt, man muss sagen können, John Demjanjuk hat das Opfer XY umgebracht. Das kann man hier natürlich nicht, und deswegen hat die Anklage hier zu der Theorie gegriffen, dass Sobibor eben ein reines Vernichtungslager war, nur dem Zweck diente, Juden dort zu ermorden, und dass jeder, der dort war, automatisch schuldig ist.

Und es wird sehr interessant sein, wie das Gericht eben dieser Argumentation folgt. Und sollte es hier zu einem Schuldspruch kommen, dann ist das in der Tat eine völlig neue Entwicklung, und ich könnte mir durchaus vorstellen, dass wir, auch wenn wir sagen, die meisten Angeklagten sind schon verstorben oder die möglichen Täter sind schon verstorben, dass es dann doch vielleicht in naher Zukunft noch den ein oder anderen Prozess geben wird, der auf den Erkenntnissen aus diesem Münchener Verfahren basiert.

Timm: 92 Verhandlungstage – sind Sie erleichtert, dass es vorbei ist?

Aßmann: Ja, ich bin erleichtert, weil ich das Gefühl habe, dass es jetzt wirklich auch im Sinne des Angeklagten und im Sinne aller Prozessbeteiligten ist, dass wir hier eine Entscheidung bekommen, denn am Schluss drehte man sich in der Beweisaufnahme wirklich nur noch um Sachen, die man immer schon hatte, es wurde alles noch mal und noch mal thematisiert. Also es ist hier alles aufgerollt worden, es ist gründlich gearbeitet worden, und dann kann ein Gericht eben auch zu einer Entscheidung kommen.

Aber es ist für mich ganz klar, dass diese Entscheidung mit dem morgigen Urteilsspruch nicht rechtskräftig werden wird, egal welche Instanz, welche Seite hier nun unterliegt, wird in die nächste Instanz ziehen, das heißt, Karlsruhe wird sich damit beschäftigen müssen, und so lange wird John Demjanjuk eben noch sagen können, ich war nicht da, und die andere Seite wird akzeptieren müssen, dass es noch kein rechtskräftiges Urteil gegen ihn gibt.

Timm: Tim Aßmann, Gerichtsreporter des Bayerischen Rundfunks, über den Demjanjuk-Prozess, der heute in München mit dem Plädoyer der Verteidigung zu Ende ging. Für morgen wird das Urteil erwartet.


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