Ein Sechsbeiner

Von Carolin Hoffrogge · 15.03.2010
Göttinger Forscher haben die Laufweise von Kakerlaken genauer unter die Lupe genommen, um einen intelligenten Roboter zu entwickeln. Ein Roboter, der die Gangarten wechseln kann und damit quasi mitdenkt. Das ist für die Robotik ein großer Schritt und kann auch für uns Menschen in einigen Jahren medizinisch einen großen Vorteil bedeuten.
Physikprofessor Marc Timme ist ein chaotischer Mensch, das sagt der hoch gewachsene 35-jährige zumindest von sich selbst.

"Das ist mein Chaosraum. Das unter den Papieren ist mein Schreibtisch und hier steht eigentlich eine Sitzecke."

Im Büro des jungen Professors für Chaosforschung liegen überall Bücher und Zettel rum, Jonglierbälle auf dem Regal, ein Mobile auf dem Fensterbrett. 14 bis 16 Stunden täglich ist Marc Timme hier zugange.

"Manche Leute wundern sich, dass ich trotzdem wach bleibe. Die Motivation ist so hoch."

Diese nimmermüde Atmosphäre und das Chaos sind wohl die Voraussetzungen für Marc Timmes Kreativität. Nicht nur sein Büro, der ganze dritte Stock in dem alten Bürogebäude wirkt gemütlich. Blaue Ledersofas stehen im Flur - und daneben das Herz des Instituts, eine hochmoderne Kaffeemaschine. Hier war es auch, wo Amos geboren wurde, der Göttinger Laufroboter.

"Ja, ungefähr hier. Damals war der Herr Wörgötter mit seiner Gruppe noch bei uns im Gebäude so übergangsweise, weil das in der Physik noch nicht möglich war. Da kam es raus, dass eine Diplomandin, Silke Steingrube gerade an dem Thema Chaoskontrolle arbeitet."

Silke Steingrube entwarf den Laufroboter am Computer: Amos führte also ein rein virtuelles Leben, er tapste, huschte und stolperte nur über den Bildschirm. Damit Amos ins reale Leben rüberwechseln konnte, also lernte, wie er tapsen, huschen oder stolpern soll, brachte Marc Timme das innere Chaos des Laufroboters unter Kontrolle.

"Wenn sie Fahrradfahren zum Beispiel und keine Kräfte von ihrer Person auf das Fahrrad ausüben, fallen sie nach rechts oder links um. Die geradeaus fahrende Position ist aber im Grunde genommen stabil, das heißt mit kleinen Kräften können sie es schaffen, das Geradeausfahren zu gewährleisten und nicht nach rechts oder links umzufallen. In unserem Chaoskontroller ist es so ähnlich. Da gibt es instabile periodische Signale, die sie mit kleinen Kräften stabilisieren können.

Diese regulären Muster werden dann eben übertragen, um verschiedene Gangarten anzusteuern. Er ist dadurch flexibler geworden, verschiedene Gangarten und allgemeine Verhaltensweisen hat er gleichzeitig im Griff."

Mit 18 Sensoren erkennt der Laufroboter seine Umgebung, 18 Elektromotore gestatten verschiedene Fortbewegungsmöglichkeiten. Um Amos diese Möglichkeiten einzuverleiben, taten sich der Physiker Marc Timme und Biophysiker Florentin Wörgötter zusammen und Roboter Amos zog gemeinsam mit Florentin Wörgötter von der gemütlichen Bunsenstraße ins funktionelle neue Labor um. Auf dem Weg dorthin erinnert sich der Biophysiker.

"Ich war da unten in der Bunsenstraße eigentlich lieber als hier in der neuen Physik. Das hier ist zwar extrem funktionell, aber es war da unten einfach gemütlich und außerdem waren da auch die Kneipen näher dran."

Amos ist ein Sechsbeiner aus Kunststoff und Stahl, mit bunten kurzen Kabeln bestückt, so groß wie ein Dreirad. Er passt gut in die graue Umgebung des Labor: Linoleumboden, große Stahlfenster, Betonwände. Für Florentin Wörgötter und sein Team eine Spielkammer.

"Wir haben ja ein relativ großes Labor, mittlerweile haben wir auch verschiedene Sechsbeinroboter, die wir hier laufen lassen können. Was hier gemacht wird, dass die Maschine verschiedene Parcours bewältigen muss mit verschiedenen Gangarten."

Wie eine Riesenspinne bewegt sich Amos über den grauen Linoleumboden des Labors. Gleichzeitig hebt er drei Beine, zwei links, eins rechts, setzt sie ab, hebt eins links, zwei rechts und so weiter.

Je nach Anforderung könnte der Roboter Bergsteigen oder Kriechen, Treppen bewältigen oder um die Ecke gehen. Das hängt von den Eingangssignalen ab, die er über seine Sensoren aufnimmt. Die Neuheit besteht nun darin, dass Amos nur eine einzige Schaltstelle besitzt, in der die Informationen koordiniert werden.

Die beiden Göttinger Professoren bauten dazu eine komplexe Elektronik in seine inneren Organe und machten diese durch die Chaoskontrolle einfacher. Dabei haben sich die Physiker einiges von den Biologen abgeguckt, besonders von Forschern, die die Nervensysteme von Insekten studieren. Für Amos stand die amerikanische Schabe Pate, einerseits:

"Dass sich die Biomechanik an die Biomechanik von solchen sechsbeinigen Küchenschaben sehr stark anlehnt. Das andere ist, dass das Kontrollnetzwerk ähnlich ist, wie das was in Insekten gefunden wird."

Ob Amos langsam schreitet, schnell läuft oder eine Rampe hochklettert: Marc Timme und Florentin Wörgötter sind fasziniert, wenn sie ihrem neu entwickelten Sechsbeiner bei seinen Bewegungen zuschauen. Die Göttinger haben sich zwar die Bewegungen der Insekten zu Nutze gemacht, aber ihren Laufroboter mit mehr Intelligenz ausgestattet. Er hat nur eine Schaltstelle und ist dadurch schneller, aber der Clou an dem Göttinger Roboter: er lernt! Florentin Wörgötter.

"Auf einer Rampe lernt die Maschine eine Gangart auszuwählen, bei der sie wenig Energie verbraucht. Das macht der Mensch ja auch, das lernen wir als kleine Kinder, dass, wenn es bergauf geht, dass man dann langsam mit kurzen Schritten geht.

Bei der Maschine ist das so ähnlich, wenn sie auf einen Berg zuläuft, das das viel Kraft kostet, dann probiert sie verschiedene Gangarten aus. Durch Versuch und Irrtum merkt sie dann, dass ein langsameres Schrittmuster weniger Kraft kostet, eine Rampe raufzulaufen."
Florentin Wörgötter und Marc Timme wollen mit Hilfe ihres Laufroboters ganz neue Wege in der Prothetik beim Menschen gehen. Die Vision der Göttinger Wissenschaftler: sie entwickeln intelligente, lernende Prothesen, um körperbehinderten Menschen das Leben zu erleichtern.

"Wir können versuchen solche kleinen Schaltnetzwerke nachzubilden, so wie in der Maschine hier und die dann dazu zu bringen zu lernen. Diese Methoden kann man dann - nicht eins zu eins - aber konzeptionell auf Prothesen übertragen.

In den nächsten zehn Jahren wird sich da einiges tun. Es werden Prothesen auf den Markt kommen, die viel mehr Sensoreingang verarbeiten und wir hoffen, dass sie diese Verarbeitung mit diesen Methoden vornehmen, weil wir glauben, das diese Methoden relativ mächtig sind."