Ein Roman wie eine Wundertüte

03.08.2012
Ein unbekanntes Dorf, ein Sammelsurium diffuser Situationen: Der Debütroman des Leipziger Autors Francis Nenik besteht aus 423 einzelnen, nicht durchnummerierten Blättern. Der Leser kann an jeder Stelle in den Roman einsteigen - und sich immer wieder überraschen lassen.
Der Debütroman des Leipziger Autors Francis Nenik besteht aus 423 einzelnen, nicht durchnummerierten Blättern. Schweres, hochwertiges A5-Papier, zusammengehalten durch eine rote Banderole und einen Pappkarton. Der Leser kann also an jeder Stelle in den Roman mit mehr als 120 Kapiteln einsteigen. Gleichzeitig verleiht diese Freiheit dem Text eine gewisse Anarchie. Denn kommen die Blätter durcheinander, ist nicht mehr klar, was wohin gehört.

Verstärkt wird die inszenierte Unübersichtlichkeit durch textliche Spielereien. Mal besteht ein Kapitel aus einem kurzen Gedicht mit absichtlich holprigen "Haus"–"Maus"–Reimen. Mal wird ein Kasperletheater aufgeführt. Es gibt Auflistungen von Pilzsorten, seitenlange bürokratische Paragraphen über die Inspektion von Kirchen und abschweifende Briefe über drogenähnliche Pflanzen - mal in endlos verschachtelten Sätzen, dann wieder in schnellen, absurden Dialogen. Manche Kapitel sind komplett durchgestrichen, andere zu Teilen geschwärzt oder überall mit Randnotizen versehen.

Auch die Handlung wirkt wie ein kleinteiliges Puzzle ohne zentrales Motiv: Erzählt wird die Geschichte eines unbekannten Dorfes. Beim Brand der Kirche ist der Pfarrer ums Leben gekommen, ein Ermittler soll das Geschehene aufklären. Dies ist der Rahmen für ein Sammelsurium von diffusen Situationen. Es geht um Fischfang und Revolutionen, um eine Senke im Wald oder den Bau einer Brücke. Es geht um eine Leihbücherei und Briefkästen, um Kochrezepte und Kegelspiele. Das ist oft grotesk, schwer zu verstehen und immer offen interpretierbar. Der Autor selbst nennt es ein "durcheinanderzentriertes Gefabel".

Charaktere tauchen auf, erzählen etwas und verschwinden wieder, ohne die Geschichte voranzubringen: ein Lehrer, der sein gesamtes Leben in der Schule verbringt. Ein Schmied, der arbeitet, um zu beweisen, dass er keine Arbeit hat. Ein Papagei, der als Croupier in einem Casino arbeiten will. Wenn es so etwas wie einen zentralen Charakter gibt, dann ist es Universalius, ein Gelehrter - oder eher Möchtegern-Gelehrter - der Bücher wie "Die Rolle des Zufalls in der Historiographie" schreibt.

Von Universalius kommt auch der Leitspruch des Buches: "Chronologie ist 'Opium für Historiker.'" Denn "XO" thematisiert, wie nebenbei, eine vielschichtige und austauschbare Welt. Kritisiert aber zwischen den Zeilen auch immer wieder den Wunsch, alles katalogisieren zu wollen. Dabei soll der Titel eine historische Entwicklung darstellen: Das "O" steht, so der Autor, für einen geschlossenen Kreislauf und vorhersehbare Biografien wie im 19. Jahrhundert. Das X, stellvertretend für das 20. Jahrhundert, geht in alle Richtungen, bietet Freiräume aber keine Klarheit an.

"XO" ist inhaltlich wie äußerlich ein Experimentalroman. Eine Wundertüte, die nur häppchenweise zu genießen ist. Ohne Geduld ist der Roman nicht zu überstehen. Immer wieder wünscht man sich, der Autor würde zum Punkt kommen. Die Spannung stellt sich nicht über den zerfaserten Plot ein – eher über die vielen Überraschungen, Absurditäten und Wortschöpfungen, die schon auf dem nächsten Blatt warten.

Neben der Kartonform ist "XO" unter einer Creative-Commons-Lizenz auch als PDF frei im Internet herunterladbar. Der Autor will damit, wie er sagt, "etwas tun gegen die überkommenen Modelle von Ökonomie, Kunst und Politik". Am Computer liest sich "XO" chronologischer. Es gibt aber eine Option, durch die sich die Kapitel auch digital durcheinander würfeln lassen.

Besprochen von Axel Rahmlow

Francis Nenik: "XO", Roman
Ed.cetera Verlag, Leipzig 2012
853 Seiten auf 423 losen Blättern, Euro 33,90 oder als kostenloses PDF im Internet