Ein Riss geht durch die Bilderwelt

Von Jochen Stöckmann · 02.03.2008
Mitten hinein in eine prächtige Barockkirche führt Luc Tuymans die Besucher seiner Münchner Ausstellung: In leichter Untersicht hat der 50-jährige Belgier Stuckornamente und Marmorsäulen auf eine großformatige Leinwand gebracht – und den überwältigenden Effekt zugleich gebrochen: Das Innere einer Jesuitenkirche ist aus einem Architekturbuch kopiert, der schiefe Schnitt zwischen den beiden Bilderseiten zieht sich durch das Gemälde.
Und ohne große Geste kontert der Künstler jene religiöse Propaganda, die sich auf die Macht ebenso prächtiger wie einprägsamer Bilder stützte. Bücher waren ihr Medium, die Jesuiten vergaßen bei ihrer Mission in fremden Ländern nie, dass all das von ihnen vermittelte Wissen die künftige Weltsicht ihrer Schäfchen formen würde. Bei Tuymans aber tut sich nicht nur im Kirchenbild ein Riss auf:

"Kein einziges Bild ist in der Mitte gehängt, und deswegen ist es auch möglich, die Wand zu sprengen. Und das ist wichtig, um Bilder in ihrer Anordnung im Gedächtnis nicht mehr zu erinnern. Es ist doch so, dass es einen großen Unterschied gibt, weil ein gemaltes Bild ganz anders, weniger graphisch als ein mechanisch reproduzierbares Bild erinnert wird."

Kein vertrautes, gefälliges "Layout", in dem die Massenmedien ihre tägliche Fotoration verabreichen. Auch auf festgefügte Erinnerungen lässt sich vor Tuymans spröden Bildern nicht zurückgreifen. Seltsam entrückte, maskenhafte Porträts und fragmentarische Detailstudien entziehen sich den üblichen Erkennungsmustern. Aber bald steigen erste Ahnungen auf: Eine schemenhaft umrissene Frauengestalt hält vor sich etwas in die Höhe, wie zur Demonstration, vermutlich ein Baby. Das Mutter-Kind-Idyll wirkt ebenso stilisiert wie gespenstisch. Am Ende dann findet sich in einer langen Vitrine der Hinweis auf die Vorlage, einen religiös-fundamentalistischen Animationsfilm der Mormonen:

"Ich erkläre schon die Bilder, um vollständig zu sein – aber das bedeutet nicht, dass das zwangsmäßig durchgesetzt werden sollte. Ein Zuschauer kann das ja einfach nur schön finden oder was immer. Man soll den Zuschauer auch nicht – zum Beispiel didaktisch – allzu sehr unterschätzen!"

In der Bildersammlung, die Tuymans als Ausgangspunkt für seine Erkundung des kollektiven Motivgeländes diente, fallen einige Ausgaben von "Signal" auf: Mit der aufwendig in Farbe gedruckten Zeitschrift betrieben die Nazis ihre Auslandspropaganda, dieser Postille entstammt auch der – ironisch gewendete – Ausstellungstitel "Wenn der Frühling kommt". Daneben Ansichtskarten, Bildergrüße aus dem Urlaub – im KZ Theresienstadt, wie sich erst bei näherem Hinsehen herausstellt. Häftlinge wurden gezwungen, mit diesen Fotos ihre Verwandten außerhalb des Lagers zu beruhigen. In seinem Gemälde hat Tuymans diese Anekdote ins Prinzipielle gewendet, sie zugleich anschaulich übersteigert. Vor der schematisch skizzierten Monumentalarchitektur der alten Festungskasematten steht geschrieben " Our New Quarters" – als ginge es um ein Wohnprojekt des Neuen Bauens. Der malerische Duktus wirkt improvisiert, geradezu spontan – und führt wiederum aufs Glatteis:

"Bevor ich male gibt es eine Zeit von Monaten, bevor ich eigentlich anfange zu malen, wo ich die Recherche mache, was ich dann malen werde. Und wenn ich dann weiß, was ich malen werde, weiß ich auch genau, wie ich es malen will."

"La Nuque", den Stiernacken eines KZ-Aufsehers hat Tuymans bildfüllend gemalt, als sei er mit einer Kamera hautnah herangefahren, als säße das Objektiv dem SS-Schergen im Genick. Mit solchen extremen Ausschnitten, mit der Fokussierung auf Details wird eine Wahlverwandtschaft deutlich:

"Film und Malerei statt der Fotografie, wo man in nur einem Moment die Entscheidung trifft, wo ich also zu spät kommen würde. Mit Film kann man sich dem Bild annähern, so wie man sich ihm auch mit dem Gemälde annähert. Man kann es teilweise übermalen oder auch wieder wegmalen. In dem Sinne gibt es da eine riesige Beziehung. Aber auch psychisch bin ich eher geprägt durch den Fernseher statt durch Fotografie: Ich bin ja aufgewachsen mit dem Fernsehen, das bedeutet einen Mangel an Erfahrung und eine Vielfalt an Bildern."

Eine Reihe von Standfotos aus Super-Acht-Filmen, die Tuymans Anfang der Achtziger auf einem Prager Friedhof, im Hafen von Antwerpen oder auf dem Schlachtfeld von Waterloo drehte, macht deutlich, wie sehr wiederum der Kameramann seinem malerischen Sehen vertraute: atmosphärisch dicht, mit Betonung verschatteter Silhouetten. Nach dem Ende seiner Filmjahre hat Tuymans diese "mechanischen" Aufnahmen neben zahlreichen Polaroids wiederum als Vorlage benutzt für Gemälde, für Bilder, mit denen er sich allerdings nicht verbissen an einem einzigen Thema abarbeitet wie etwa der Malerkollege Gerhard Richter:

"Also, ich bin nicht in dem Sinne ein Kontrollfreak wie etwa Richter das ist. Denn das könnte auf die Dauer dem ganzen Oeuvre mehr schaden als alles andere – weil es dann bis ans Ende unglaublich bürokratisch und langweilig wird."

Also bringt auch Tuymans seinen Bilderbestand in Ordnung, arrangiert dabei aber die einzelnen Arbeiten für jede Ausstellung vollkommen neu, schafft überraschende Bezüge zwischen schon bekannten Motiven, fügt zu temporären Werkgruppen zusammen, was einzeln und für sich entstanden ist. Oder hängt einen kleinen Zyklus wie die "Zeit" - vier kaum 40 Zentimeter hohe Arbeiten – in einer Halle im Haus der Kunst an das Ende einer fast 40 Meter langen Raumflucht. Und da halten die kleinen Formate, darunter ein Porträt des SS-Gruppenführers Heydrich mit Sonnenbrille, dem leeren Raum auf bemerkenswerte Weise stand. In einer Monumentalarchitektur, die im Dritten Reich auf Überwältigung ausgelegt war, werden Bilder künstlerisch wieder in ihr Recht gesetzt – mit der gebotenen, virtuos gespielten Ironie:

"Was auch ein Schock war: Dass die Seitenräume, wenn die Bilder hineinkommen, sich verwinzigen. Ich hatte immer gedacht, die wären viel größer. Es wurde dann fast unmöglich, zwei Bilder auf eine Wand zu knallen."

Selbst monumentale Sichtachsen verwandelt Tuymans in labyrinthisch verzweigte Denkräume - wo jeder an seiner eigenen Sicht arbeiten kann und muss, abseits aller verfestigten Standpunkte, ohne angelesene Kenntnisse. Ein wunderbar riskanter, ausgesprochen "malerischer" Mittelweg zwischen dem Wissen, ohne zu sehen und einem naiven Sehen, ohne zu wissen.

"Es geht darum, dass es bei mir ein riesiges Misstrauen gibt Bildern gegenüber. Entweder Medienbilder, aber auch gegenüber meinen eigenen Bildern. Wenn ich dieses Misstrauen zum Zuschauer rüberbringen kann, dann bin ich ja schon sehr froh."