Ein Raum aus Licht

Von Carsten Probst · 22.10.2009
Licht ist sein großes und einziges Sujet. Im Kunstmuseum Wolfsburg ist nun die größte Installation zu sehen, die der amerikanische Künstler James Turrell bislang geschaffen hat - auf einer Fläche von 700 Quadratmetern.
Markus Brüderlin: "Ein Ganzfeld nennt man ein strukturloses, gleichmäßig ausgeflutetes Sehfeld, (...) das durch die Homogenität keinerlei Orientierung bietet. Nach wenigen Minuten stellt sich für die Betrachter das Gefühl ein, in einem Nebel zu stehen, der anscheinend immer dichter wird. Nach weiteren Minuten scheint sich dieser Raum aufzulösen, nach circa 20 Minuten können bei den Betrachtern Veränderungen des Körpergefühls eintreten. Bei noch längerer Betrachtung (...) kann die gesamte visuelle Wahrnehmung ausfallen."

Soviel zu den möglichen Risiken und Nebenwirkungen von James Turrells rekordverdächtiger Großinstallation im Kunstmuseum Wolfsburg. Dessen Direktor Markus Brüderlin verliest den Beipackzettel nicht ohne Stolz, weil schließlich Kunst, die auch ein bisschen gefährlich erscheint, die Neugier der Pressemeute vielleicht noch ein wenig anstachelt.

Aber das ist gar nicht nötig, die schieren Dimensionen von Turrells sogenanntem "Ganzfeld-Piece" mit seinen 56.000 Leuchtdioden auf 700 Quadratmetern sind auch so schon dramatisch genug. Turrell, der 1943 in eine kalifornische Quäkerfamilie hineingeboren wurde, hat es sich dabei nicht nehmen lassen, die Assoziationen von Grabkammer, mystischer Offenbarung und danteschem Fegefeuer bis zum Anschlag auszureizen. Er schickt den Besucher über eine steil abfallende Rampe hinab in eine über und über abwechselnd in Rot, Blau und Magenta erleuchtete Unterwelt, in der man, von der permanenten Lichtdusche schon bald hinreichend benommen, sich an eine kaum sichtbare Schwelle herantastet.

Vor dem Übertritt dieser letzten Grenze bewahren einen nur die vorsorglich dort postierten Museumsbediensteten mit dem leisen Hinweis: "Hier beginnt der Abgrund." Dieser Abgrund wirkt freilich so, als blicke man in einen sanft bläulich getönten Sommerabendhimmel, nur dass der diesmal nicht oben, sondern geradeaus liegt. Ein Raum nur aus Licht, in dem es kein Oben und Unten mehr gibt und der das verführerische Verlangen erzeugt, sich einfach mal hineinfallen zu lassen, um zu sehen, ob einen das Licht davonträgt.

James Turrell: "Meine Arbeit beschäftigt sich tatsächlich mit der emotionalen Qualität unseres Gefühls von Licht. Denn Licht ist etwas, dessen materielle Existenz Sie spüren und zu der Sie sich verhalten können. In dieser Arbeit möchte ich Sie nun gleichsam hineinwerfen in dieses Fühlen des Lichts, und zwar mithilfe der Schwerkraft auf der Rampe am Eingang der Installation. Es ist nicht unbedingt überraschend für uns, das Licht in dieser Form wahrzunehmen, weil wir es vielleicht aus solchen speziellen Momenten schon kennen. (...) Wir sehen es nicht, wenn wir die Augen geöffnet haben, sondern eher in Träumen, mit ihrem luziden Sinn für Farbe, wenn unsere Augen geschlossen sind, und auch mit einer größeren Klarheit","

erläutert der Künstler, der mit seinem wallenden Haupthaar und dem langen weißen Bart auf den ersten Blick eher wie eine Mischung aus kanadischem Wildhüter und Märchenonkel wirkt.

Tatsächlich aber ist James Turrell ein Pionier auf dem Feld der Kunst und der Wissenschaft, wie es sie heute nicht mehr oft gibt, er ist ein Grenzgänger, in dessen Werk sich spirituelle, physikalische, psychologische und künstlerische Fragen vereinen und über immer neue Grenzen getrieben werden. Geradezu legendären Status hat inzwischen sein seit den 70er-Jahren in Arbeit befindliches "Roden Crater Project" erlangt, bei dem Turrell einen 150 Meter hohen Vulkankegel in der Wüste von Arizona in ein Licht-Observatorium verwandelt, das eine völlig neue Erfahrung des Himmelslichtes bewirken soll.

Doch begonnen hat alles mit seiner Faszination durch die Malerei eines Mark Rothko, dessen Bilder Turrell so beschreibt, dass ihre Farben nicht einfach das äußere Licht reflektiert, sondern von innen heraus geglüht hätten. Noch heute finden sich auch viele tafelbildartige Lichtinstallationen in dem komplexen Werk Turrells, der sich im Verlauf seiner Karriere immer stärker mit Naturphänomenen und der Grenze zwischen irdischem und kosmischem Licht auseinandergesetzt hat. Gern erzählt er, der schon mit 16 seine Fluglizenz erwarb, wie er beim Flug in seiner Kleinmaschine über der Stadt Bakersfield sein großes mystisches Lichterlebnis hatte, das seinen weiteren Weg bis heute prägen sollte:

Turrell: ""Es war ein Nebel, der aufgrund der Kälte in Bodennähe entstanden war, nur einen oder einen Meter zwanzig hoch. Vom Cockpit meiner kleinen Maschine aus sah ich die Startbahn nicht mehr. Stattdessen nur ein sanftes Leuchten, wo sie unter dem Nebel sein musste. Ich entschied mich trotzdem, zu starten. Und als ich abgehoben hatte, sah ich, wie das ganze Tal bedeckt war von diesem niedrigen Nebel. Auf der Autobahn sah ich die Trucks, die langsam ihren Weg machten, aber die übrigen Autos waren unter dieser weichen weißen Decke verhüllt. Und über mir in der Stratosphäre war eine Wolkendecke aufgezogen, also eine weiße Fläche über und eine unter mir. Die Sonne stand dazwischen und färbte alles das orange. Es war unglaublich. Ich sah hinab auf Bakersfield, und plötzlich startete da ein Düsenflugzeug, das einen langen Schatten auf den Nebel warf und eine große weiße Linie von Kondensstreifen hinter sich herzog, und das alles zusammen war wirklich außergewöhnlich. Und ich dachte: Ja! So etwas Schönes willst du auch machen, das ist gut genug für heutige Kunst!"

Das eindrucksvolle Ausufern seiner Raumprojekte täuscht allerdings allzu leicht darüber hinweg, dass kleinere Arbeiten oft viel konzentrierter sind. Jene Arbeiten, die sich noch stärker an die Formate der Tafelmalerei eines Mark Rothko halten, die Turrell ursprünglich inspiriert hat. In Wolfsburg stehen Beispiele dieser wunderbar stillen, meditativen, aber viel weniger spektakulären Stücke völlig zu Unrecht nur am Rand.