Ein Plädoyer für den väterlichen Staat

Rezensiert von Ulrike Ackermann · 01.05.2013
Der Harvard-Philosoph und erklärte Kommunitarist Michael Sandel diskutiert in diesem Band verschiedene Konzepte von Gerechtigkeit. Er misstraut dem Individuum und seinen Fähigkeiten - und fordert einen Staat, der uns in moralisierender Politik vorschreibt, wie wir zu leben haben.
Seit der Französischen Revolution begleiten uns die Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Zugleich hat uns dieser Aufbruch in die Demokratie seit dem 19. Jahrhundert ein neues Dilemma beschert: nämlich die Kollision des Wertes der Freiheit mit dem Wert der Gleichheit. Ein Konflikt, der bis heute unsere Debatten befeuert.

Der Harvard-Professor Michael J. Sandel will die sich daraus ergebenden großen Fragen der politischen Philosophie beantworten:

"Wie also können wir mit unserer Vernunft so erfolgreich durch das Terrain navigieren, in dem es um Fragen der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Gleichheit und Ungleichheit, die Rechte des Einzelnen und das Allgemeinwohl geht?"

Das Buch gründet im Wesentlichen auf seinen Einführungskursen an der Universität, die unterschiedliche philosophische Konzepte von Gerechtigkeit vorstellen. Seine leitende Fragestellung ist dabei:

"Soll eine gerechte Gesellschaft danach streben, die Tugend ihrer Bürger zu fördern? Oder sollte das Gesetz gegenüber konkurrierenden Entwürfen neutral sein, damit die Bürger selbst frei entscheiden können, wie sie am besten leben?"

Konzepte der Utilitaristen, für die das größte Glück der größten Zahl das grundlegende Kriterium moralischen Handelns bedeutet, stellt Michael Sandel ebenso vor wie die Ideen Immanuel Kants oder John Rawls zur Gerechtigkeit.

Immer wieder lockert er die theoretischen Diskurse mit Beispielen aus dem amerikanischen Alltag auf: von der Bankenrettung bis zum Preiswucher der Hoteliers anlässlich eines Hurrikans.

Der große Held des Autors ist Aristoteles mit seinem Diktum, das Ziel von Politik sei das gute Leben.

"Allein in politischer Gemeinschaft, sagt Aristoteles, können wir unsere spezifisch menschliche Sprachfähigkeit ausüben, denn nur in einer Polis beraten wir uns mit anderen über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit und die Natur des guten Lebens… Die Gesetze der Polis schärfen einem gute Gewohnheiten ein, formen gute Charaktereigenschaften und fördern unsere staatsbürgerliche Tugend."

Michael Sandel: "Gerechtigkeit"
Michael Sandel: "Gerechtigkeit"© Ullstein
Der Staat soll den Bürgern die richtige Moral präsentieren
Als erklärter Kommunitarist sieht er es als Aufgabe von Familie und sozialen Gemeinschaften an, Werte zu formulieren und einzuüben, und kritisiert all jene liberalen Konzepte, die darauf pochen, dass der Staat gegenüber der Lebensführung des Einzelnen neutral sein sollte.

"Die Vorstellung, das Recht solle gegenüber Entwürfen des guten Lebens neutral sein, spiegelt die Vorstellung des Menschen als eines frei wählenden Individuums wider…. Tatsächlich gehört es zu den speziellen Merkmalen der politischen Debatte in Amerika, dass die Ideale des neutralen Staates und des frei wählenden Individuums quer durch das politische Spektrum anzutreffen sind."

Michael Sandel plädiert stattdessen für eine wertebasierte Politik, die nach den Vorstellungen des guten Lebens suchen und sie anschließend in verbindliche Gesetze gießen sollte. Dem Autor schwebt offensichtlich ein Gemeinwesen vor, in dem der Staat seinen Bürgern die vermeintlich richtige Moral präsentiert und sie ihr entsprechend erzieht.

Die liberale Errungenschaft, wonach Moral und Religion Privatsache sind und gerade nicht öffentlich-politische Angelegenheiten, ist Sandel suspekt. Er nimmt in seiner Vorstellung vom gutem Leben und dem gerecht organisierten Gemeinwesen in Kauf, dass die Politik der moralischen Option der Mehrheit folgt.

Bereits im 19. Jahrhundert warnten John Stuart Mill und Alexis de Tocqueville vor dieser "sozialen Tyrannei" der Mehrheit gegenüber individueller Eigenwilligkeit. Doch Michael Sandel misstraut dem Individuum und seinen Fähigkeiten. Für eine tugendhafte Lebensführung bräuchten wir die Gemeinschaft, das Kollektiv.

"Wenn wir uns als unabhängige Individuen verstehen – frei von Bindungen, die wir nicht selbst gewählt haben – dann ergibt eine ganze Reihe moralischer und politischer Verpflichtungen, die wir gewöhnlich anerkennen und achten, für uns keinen Sinn. Dazu zählt die Pflicht zu Solidarität und Loyalität, zu historischem Gedenken und religiösem Glauben – moralische Forderungen, die sich aus den Gemeinschaften und Traditionen ergeben, die unsere Identität formen."

Aber sind nicht gerade die individuellen Lebensexperimente das Salz in der Erde und lassen die Menschheit fortschreiten?

Wenn Individuen sich um ihr eigenes Glück und Wohlergehen kümmern, nehmen sie zugleich als soziale Wesen am gattungsgeschichtlichen Fortschritts- und Erkenntnisprozess teil. Sie produzieren damit ein allgemeines und öffentliches Wissen über die Möglichkeiten des guten Lebens, über dessen Varianten auch dann lauthals gestritten werden kann.

Ihre Antriebsquelle ist dabei der eigene Wunsch, selbst ein gelingendes, glückliches Leben führen zu wollen. Indem die Menschen entsprechend der Vielfalt der Charaktere und Meinungen ihren eigenen Lebensplan entwerfen und ihm folgen, schaffen sie überhaupt erst die Pluralität der Lebensstile, ein Kaleidoskop von Lebensmöglichkeiten, die dann alternativ zur Wahl stehen und damit das Gemeinwesen bereichern.

Glücklicherweise sind wir inzwischen so erwachsen geworden, dass wir keinen Staat brauchen, der uns in moralisierender Politik vorschreibt, welche Weise des guten Lebens die richtige ist und uns in väterlicher Manier auf den Weg der Tugend führt – möchte man Michael Sandel nach der Lektüre seines Buchs entgegenhalten.

Michael J. Sandel: Gerechtigkeit. Wie wir das Richtige tun
Aus dem Amerikanischen von Helmut Reuter
Ullstein Verlag, Berlin 2013
413 Seiten, 21,99 Euro, als ebook 18,99 Euro
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