Ein Panorama der Stadtviertel

30.05.2011
"Hier geht man nicht wo, sondern wohin." So charakterisiert Franz Hessel sein Berlin. Der Spaziergänger ist dem eiligen Berliner, dem Zielbewussten zwar verdächtigt, doch Hessel durchstreift ziellos schlendernd die Stadt.
"Der Berliner hat keine Zeit", konstatierte Kurt Tucholsky 1919, und zehn Jahre später bewies ein Autor, dass es zumindest einen Bewohner der Großstadt gab, auf den dieses Diktum nicht zutraf: Franz Hessel brachte die Kunst des Schlenderns, des Spaziergangs, des müßigen Flanierens in seine Heimatstadt zurück.

Und er tat dies umwerfend: "Spazieren in Berlin", 1929 erstmals veröffentlicht, ist ein wunderbar erzähltes Buch, stilistisch glänzend und voller Poesie, voller feiner Beobachtungen und Beschreibungen, getragen von großer Neugier und ebensolchem Wissen.

Franz Hessel - heute etwas vergessen - war zu seiner Zeit ein bekannter Journalist. Sohn einer jüdischen Bankiersfamilie, geboren in Stettin, aufgewachsen in Berlin, von wo er 1938 nach Frankreich flüchtet. Nach Kriegsausbruch wird er dort interniert und stirbt 1941. Sein 1917 geborener Sohn, der seit 1925 mit der Mutter in Paris lebt, schließt sich der Résistance an, überlebt das Konzentrationslager Buchenwald und wird nach dem Krieg französischer Diplomat. Im Jahr 2010 erscheint Stéphane Hessels Buch "Empört euch!", mit dem ihm ein internationaler Bestseller gelingt. Das private Leben Franz Hessels, vor allem die Liebe zu seiner Frau Helen und die Freundschaft und Liebe beider zum Kunsthändler Henri-Pierre Roché war die Vorlage für Truffauts Film "Jules und Jim".
"Hier geht man nicht wo, sondern wohin." So charakterisiert Franz Hessel sein Berlin. Der Spaziergänger ist dem eiligen Berliner, dem Zielbewussten zwar verdächtigt, doch Hessel durchstreift ziellos schlendernd die Stadt. Er berichtet zunächst von der Arbeitswelt, später besucht er die Tempel des Konsums, schließlich das Nachtleben. Dann zieht es ihn entlang des Kurfürstendamms und des Landwehrkanals, er klettert den Kreuzberg hoch, bewundert die Bautätigkeit am Hermannplatz in Neukölln, wandert durch Charlottenburg, wo er aufwuchs, und so entsteht ein Panorama aller Stadtviertel, das auch zu Vergleichen mit dem heutigen Berlin einlädt. Was ist erhalten, was anders, was ist anders und fühlt sich doch ähnlich an?

Hessel bietet ein Sammelsurium an Beschreibungen und atmosphärisch dichten, oft alltäglich wirkenden Beobachtungen. Leicht kommen sie daher, und doch erfährt man aus ihnen viel über die Gesellschaft und ihre Verwerfungen – egal, ob Hessel über Bau- oder Kunstgeschichte schreibt oder über die Menschen an ihren Arbeitsplätzen oder darüber, wie sie abends aus den U-Bahnhöfen strömen.

So wie Alfred Döblin für sein zeitgleich erschienenen Roman "Berlin Alexanderplatz", für sein schnelles Berlin eine eigene Sprache schuf, so fand sie auch Hessel für seine Berlin-Betrachtungen: Es ist eine Sprache, die eher an den Romanen des 19. Jahrhunderts geschult ist, keine literarische Avantgarde. "Ein Bilderbuch in Worten" lautet einer der Untertitel des Buches treffend, und es ist ein Bilderbuch, das sein Berlin klassisch realistisch, mitunter impressionistisch, oft auch etwas wehmütig abbildet. Und ein Buch, dass Sehen lehrt.

Besprochen von Günther Wessel

Franz Hessel: Spazieren in Berlin
Neu herausgegeben von Moritz Reininghaus
Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2011
240 Seiten, 19,90 Euro