Ein Paläoanthropologe bei der Arbeit

30.12.2012
Der Anthropologe Joachim Wahl hat in diesem Buch 15 Tötungsfälle aus unterschiedlichen Epochen zusammengestellt. An den Resten der Leichen versucht er mit heutigen Untersuchungsmethoden mehr über die Todesumstände unserer Vorfahren herauszufinden, und der Leser schaut ihm dabei über die Schulter.
Vor 7000 Jahren wurden die Einwohner eines kleinen Dorfes bei Thalheim im heutigen Baden-Württemberg ermordet. Mindestens 34 Menschen, darunter 18 Erwachsene sowie 16 Kinder und Jugendliche beiderlei Geschlechts, starben eines gewaltsamen Todes. Die überlegenen, unbekannten Angreifer jagten ihre Opfer mit Pfeilen, zertrümmerten ihnen von hinten die Schädel und warfen sie in ein gemeinsames Grab, das 1983 wiederentdeckt wurde.

Solche historischen Szenarien lässt Joachim Wahl in seinem Buch "15.000 Jahre Mord und Totschlag" wiederauferstehen. 15 Tötungsfälle aus unterschiedlichen Epochen der älteren und jüngeren Vergangenheit – der jüngste Fund datiert aus dem Jahr 1740 – hat der Anthropologe zusammengestellt, und dabei immer die Frage im Blick: Was kann man mit heutigen Untersuchungsmethoden noch über diese Menschen und ihre Todesumstände herausfinden?

Das ist oft weniger spektakulär als bei den Ermittlern aus bekannten Fernseh-Serien, aber dennoch beeindruckend. Denn was nach Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden noch in Brunnenschächten, Moorböden oder unter Ackerkrumen gefunden wird, sind nur noch Reste von Knochen. An ihnen erkennen Wissenschaftler immerhin Spuren von Gewalteinwirkung, lesen Hinweise auf das Alter, auf Krankheiten, Mangelernährung, frühere Verletzungen, Schwangerschaften oder körperliche Schwerstarbeit an ihnen ab, oder schließen aus Bissspuren, dass ein Körper einige Zeit an der Oberfläche verweste, bevor er begraben wurde. Zusammen mit dem Fundort und eventuellen Grabbeigaben entsteht so im Idealfall eine grobe Vorstellung vom Leben und vom Stand des Toten.

Was nach einer spannenden Spurensuche klingt, stellt Joachim Wahl als ein akribisches archäologisches Puzzlespiel dar, dessen Details er überwiegend nüchtern präsentiert: Eine 1,60 Meter große, 35 bis 40 Jahre alte Rechtshänderin mit desolatem Gebiss, die mit Ohrringen und Armreifen vor über 2500 Jahren während einer Belagerung im Innern der Heuneburg bei Hindersingen begraben wurde – so oder ähnlich lassen sich die meisten Fundbeschreibungen zusammenfassen. Nur manchmal, wenn es deutliche Verletzungen nahelegen, spekuliert Joachim Wahl über den wahrscheinlichen Tathergang wie bei den eingangs erwähnten Thalheimern. Ansonsten hält er sich an die wissenschaftlichen Fakten. Das ist eine Tugend. Aber Spannung beim Entdecken der Spuren und ihren möglichen Deutungen kommt dabei nicht auf.

Gelungen ist ihm die Einbettung der Funde in ihre jeweilige Zeit. Die fällt naturgemäß umso detaillierter aus, je mehr Quellen zur Verfügung stehen - wie bei den Appenzellerkriegen um 1403 oder die Zeit der Reformation. Die historischen Händel stellt er nachvollziehbar dar und lässt an den Fundorten manch grausame Seite der Geschichte wieder lebendig werden. Ein kurzes, aber notwendiges Glossar sowie Literaturhinweise runden das Buch ab, das dank seiner kurzen Kapitel ein idealer Reisebegleiter für zwischendurch ist und dabei einen realistischen und fundierten Einblick in die Arbeit der Paläoanthropologen gibt.

Besprochen von Gerrit Stratmann

Joachim Wahl: 15.000 Jahre Mord und Totschlag - Anthropologen auf der Spur spektakulärer Verbrechen
Theiss Verlag, Stuttgart 2012
208 Seiten, 16,95 Euro