Ein paar Büsche im Hinterhof

23.10.2013
Die Natur bietet Kindern eine ideale Entwicklungsumgebung, trotz und wegen der Risiken, die sie birgt. In ihrem erhellenden Buch führen Kinderarzt Herbert Renz-Polster und Neurobiologe Gerald Hüther vielfältig aus, wie Kinder lernen. Nur ein bisschen mehr Stringenz hätte einigen Texten nicht geschadet.
Warum spielen Kinder? Und warum brauchen sie dafür Wiesen, Bäche und Bäume? In dem neuen Buch "Wie Kinder heute wachsen" entfaltet der Kinderarzt Herbert Renz-Polster eine Palette an Themen: Lernpsychologie und Gesundheit, kindliche Freiheit und Medienkonsum, Elternängste und Naturideen für Kitas und Schulen. Ko-Autor Gerald Hüther schreibt in farbig abgesetzten Essays auf seine bewährt ernsthafte und freundliche Art über Verbundenheit und Hingabe, Vertrauen, Achtsamkeit und Beharrlichkeit.

Natur - das muss kein unberührter Berggipfel sein: Kinder begnügen sich auch mit ein paar Büschen im Hinterhof, betonen die Autoren. Noch in ihrer minimalsten Erscheinungsform biete die Natur Kindern eine ideale Entwicklungsumgebung, an die künstliche Umwelten niemals heranreichten. Denn biologisch betrachtet, soll das Spielen auf ein Leben in der Natur vorbereiten. Darum sind Kinder mit einer tiefen Sehnsucht nach all dem ausgestattet, was Natur ausmacht.

Kinder wünschen sich eine vielfältige Umwelt, angefüllt mit Phänomenen, die ihre Sinne unmittelbar ansprechen und sich für die unterschiedlichsten Spielmotive nutzen lassen. Kinder möchten ihre Schritte selbst lenken, frei vom Gängelband der Erwachsenen. Sie möchten Bindungen aufbauen, unbedingt auch zu anderen Kindern und zu den Landschaften, in denen sie leben. Und nicht zuletzt brauchen sie die Widerspenstigkeit der Natur: Der Hund sträubt sich gegen die Leine. Der Bach will sich vom Staudamm nicht aufhalten lassen. Intelligente Lösungen und Kompromisse sind gefragt - diese Erfahrungen machen Kinder stärker und reifer.

Gewiss birgt das unbeaufsichtigte Spiel im Freien auch Gefahren. Aber das muss so sein, unterstreichen die Autoren, denn wer Risiken meidet, kann nicht wachsen. Kinder wandeln gezielt auf der Grenze zwischen Angst und Waghalsigkeit. Wenn Spielplatz-Ingenieure unter einer Schaukel einen weichen Kunstboden installieren, schaukeln die Kinder höher, um von weiter oben abspringen zu können - bis es eben wieder gefährlich genug ist, zeigen Studien.

Viel gefährlicher als ein hoher Baum oder ein Kletterfels sei das gedankenlose Einüben von "Medienkompetenz" in Kindergärten, kritisieren die Autoren. Kinder in diesem Alter lernten ausschließlich über gefühlvolle menschliche Beziehungen - Punkt. Den Mediengebrauch älterer Kinder hingegen könne man locker angehen: Elektronische Geräte sollten erkundet werden wie andere Phänomene dieser Welt. Probleme dabei wurzelten immer in der Beziehungsqualität zu den Erwachsenen.

Dies Buch hat viel von einer Sommerwiese, bunt, vielfältig und voller Leben. Dabei hätte den Hauptkapiteln etwas mehr Stringenz und weniger Plauderton nicht geschadet. Gerald Hüther macht vor, wie das geht. Ein besonderes Lob verdient das Layout von Nancy Püschel! Vom Qualitätspapier über die Fotografien mit ihrem coolen Vintage-Touch bis hin zu den farbig abgesetzten Zitaten und der Schriften-Auswahl - hier stimmt einfach alles.

Besprochen von Susanne Billig

Herbert Renz-Polster/Gerald Hüther: Wie Kinder heute wachsen - Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Denken und Fühlen
Beltz Verlag, Weinheim/Basel 2013
264 Seiten, 17,95 Euro
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